Der kleine Koenig von Bombay
wegen ihnen weint.« Deepak gab Arzee einen Klaps auf die Schulter. »Glaub mir, ich kenn mich da aus. Oder wenn, dann wein Freudentränen, weil du dieses Mädchen endlich los bist.«
»Tut mir leid, Deepakbhai«, murmelte Arzee. »Ich hättenicht davon anfangen sollen. Ich hätte einfach nach Hause gehen sollen.« Er schnäuzte sich in sein Taschentuch und hielt den Kopf gesenkt. »Du kannst dich glücklich schätzen, Deepakbhai, auch wenn du mit deinen Eltern im Streit gelegen hast. Ich habe nicht so ein Zuhause wie du. Ich habe auch eine Familie, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass die mich überhaupt nicht verstehen. Sie versuchen es, aber sie können es nicht. Es hat bisher nur einen Menschen gegeben … nur einen Menschen –«
»Du hörst wirklich nie auf zu klagen, kleiner Mann. Das ist sehr interessant. Wie hieß denn deine Liebste, und wie hat sie sich in so einen Wicht wie dich verliebt? War sie auch klein?«
»Nein, Deepakbhai. Sie war ein Meter fünfundfünfzig groß. Sie hieß Mo-M-«
»Mom? Erstaunlich …«
»Monique! Es ist ewig her, dass ich ihren Namen ausgesprochen habe, Deepakbhai. Eigentlich hatte ich beschlossen, ihn nie wieder auszusprechen.«
»Mon-
eek
? Was ist denn das für ein komischer Name?« Deepak kratzte sich am Kopf. »Das ist doch ein christlicher Name, oder?«
»Ja, Deepakbhai.«
Deepak lachte lauthals. »Dann hatte ich also recht!«, krähte er. »Du hast auf deine Eltern gehört und dir ein Christenmädchen gesucht, um größer zu werden!«
»Warum musst du immer wieder in diese Kerbe hauen, Deepakbhai?«, rief Arzee. »Ein Mädchen ist ein Mädchen, ganz egal, welcher Religion sie angehört. Liebe ist Liebe. Was konnte ich denn dafür, was sie war? Lassen wir das, Deepakbhai. Vielleicht ist es eh schon zu spät. Willst du es versuchenoder nicht? Sonst gehe ich jetzt nämlich. Ich will deine Hilfe nicht.«
»Du stellst Forderungen wie mein Boss«, sagte Deepak. »Wobei es meiner Ansicht nach das Beste wäre, wenn es zu spät wäre, denn dadurch würdest du dir eine Menge Kummer ersparen. Es sieht ganz danach aus, als hätte sie sich in einen anderen verliebt, kleiner Mann. Und wenn du mich fragst, liegt das nicht allein an ihr. Die Größe spielt durchaus eine Rolle. Aber es ist deine Entscheidung.«
»Ich will es, Deepakbhai. Ich muss es versuchen! Wenn ich weiß, was passiert ist, ziehe ich einen Schlussstrich unter die ganze Sache und schaue nach vorn. Es wird mir gut tun. Nicht Bescheid zu wissen ist das Allerschlimmste, Deepakbhai.«
»Ich kann dir nichts versprechen«, sagte Deepak. »Aber ich kann es versuchen, wenn du versprichst, deine Schulden komplett abzubezahlen.«
»Das ist ein Wort, Deepakbhai! Ja, das werde ich tun. Ich … ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Deepakbhai.«
»Lass es einfach bleiben, denn du wirst eh wieder zehn Minuten dafür brauchen«, sagte Deepak. »Komm morgen mit einem Bild von ihr ins Büro und hinterleg es für mich. Erzähl mir nicht, du hättest kein Foto von ihr.«
»Ich … Kann sein, dass ich es zerrissen und weggeschmissen habe, Deepakbhai. Ich muss mal nachschauen.«
»Mach das«, sagte Deepak. »Eigentlich wollte ich ja diese Zigarette rauchen und in aller Ruhe ein bisschen über das Leben nachdenken. Aber natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass du zurückkommen und hundert neue Forderungen stellen würdest, und jetzt ist sie zu einem Stummel heruntergebrannt. Also werde ich es noch mal versuchen. Meinst du, es wird mir gelingen?«
»Ich werde dich nicht mehr stören, Deepakbhai. Ich gehe jetzt auf der Stelle. Ich ruf dich morgen an, Deepakbhai. Mach’s gut, Deepakbhai.«
Und wieder ging Arzee die Treppe hinunter, doch diesmal erschien ihm das Treppenhaus nicht so trostlos. »Ich habe geweint und mich lächerlich gemacht«, dachte er, »aber das kommt vor. Deepak hat auch fast geweint, als er von seinen Eltern geredet hat. In jedem Leben gibt es Wunden.«
Als er das Tor des Chawl erreichte und mit tränenverschleiertem Blick zurückschaute, sah er Deepak rauchend im Flur stehen und in den Himmel blicken. So auf halbem Weg zwischen Erdboden und Mond, schien sich Deepak im Zentrum der Welt zu befinden, Vermittler bei jeglicher Transaktion in Bombay, vom Job bis zum Joint.
Neuntes Kapitel
Flasche sein
S chon den ganzen Nachmittag war eine große, grüne, plüschige Flasche – also, groß für eine
Flasche
, für einen Menschen hingegen klein, und ein solcher verbarg sich zweifellos in ihrem
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