Der kleine Koenig von Bombay
Ideen ist es eben, Leute, die etwas – etwas kleiner sind als üblich, an öffentlichen Orten herumlaufen zu lassen, und zwar –«, Mehndihai bückte sich und wühlte unter dem Tisch in einer großen Tasche, »in so etwas.«
Er hielt einen limonengrünen Anzug hoch, dessen Arme und Beine schlaff herunterhingen wie bei einem frisch gewaschenen Superheldenkostüm. »Abrakadabra! Ein Limzee-Anzug! Wenn Sie den anhaben, sehen Sie aus wie eine Flasche. Das ist Limzee im neuen, kleineren Format.«
»Was?«, sagte Arzee. »In diesem Ding soll ich herumlaufen?«
»Sie bekommen fünfhundert Rupien am Tag dafür, mein Freund. Das ist gutes Geld. Macht fünftausend für zehn Tage. Nicht eben wenig, mein Freund, oder? Und möglicherweise brauchen wir Sie noch länger, je nachdem, wie es läuft.«
»Aber Mehndibhai –«
Arzee wurde durch ein seltsames Schnauben des anderen Zwergs unterbrochen, der so abrupt aufgesprungen war, dass sein Stuhl davonrollte und gegen die Wand knallte. »Fünfhundert am Tag!«, schrie er ekstatisch. »Ja! Ja, das mache ich! Ich habe Schulden! Muss Rechnungen bezahlen! Meine Mutter ist im Krankenhaus, und ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen, Sir, seit Tagen nichts mehr gegessen! O Kali Maa, meine Gebete sind erhört worden. Zwei Stunden, Sir, zwei Stunden lang habe ich gestern die Füße der Göttin berührt, mich im Staub gewälzt, ihr von meinen Sorgen erzählt. Und ihre Zunge war rot, Sir, genau wie Ihr Haar. Wenn das kein Zeichen ist!«
»Ganz ruhig, guter Mann, nicht so eilig«, sagte Mehndi und zwinkerte Arzee zu. »Erst die Arbeit, dann das Geld.«
»Erst die Arbeit, Sir! Dann das Geld! Ich bin ein rechtschaffener Mann, Sir. Aber geben Sie mir zwanzig Rupien Vorschuss, Sir, denn ich habe nicht mal mehr genug Geld, um nach Hause zu kommen.«
»Die kriegen Sie, keine Sorge. Mehndi kümmert sich um seine Schäfchen, das werden Sie sehen.« Mehndi wandte sich Arzee zu. »Und Sie, guter Mann?«
»Ich – habe so was noch nie gemacht, Mehndibhai. Ich bin Filmvorführer – im Noor.«
»Erfahrung ist für diese Arbeit nicht nötig«, sagte Mehndi lachend.
»Und was mache ich, wenn ich dieses Ding anhabe?«
»Verhalten Sie sich einfach wie immer. Laufen Sie herum, winken Sie, streicheln Sie Kindern über den Kopf, verbreiten Sie positive Gefühle. Man sollte Sie bemerken, mehr nicht. Alles klar?«
Alles klar? Klar war für Arzee nur eins: Deepak war ein gerissener Fuchs. Arzee wusste nicht, ob Deepak sein Freund oder Feind war – ob er ihm wirklich hatte helfen wollen oder ob er ihn nicht vielmehr aus Rache für die vielen Male, wo er ihm hatte nachstellen müssen, mit Schmach überschütten wollte. Aber wenn ein Mann so tief gesunken war wie dieser andere Zwerg hier, dann hatte er keine Wahl. Beim Anblick des sabbernden, brabbelnden Mannes, den das Leben in den Wahnsinn getrieben hatte, bekam Arzee Angst, er könnte eines Tages, ohne es selbst zu merken, auch einmal so werden.
»Na gut, Mehndibhai«, sagte er. »So betrachtet, wird es bestimmt sogar eine … eine nette Abwechslung für mich sein. Eine neue Erfahrung.«
»In diesem Anzug können Sie übrigens auch nach Lust und Laune die Mädchen beäugen, denn die sehen es ja nicht«, sagte Mehndi schmunzelnd, während er ein Fläschchen mit kerosinfarbenem Parfum aus der Schublade zog und sich etwas davon auf den Hals tupfte. »Da, wo wir Sie hinschicken werden, sind nämlich ein paar richtig scharfe Exemplare unterwegs! So – diesen Anzug hier gebe ich in Ihre Obhut, und hier, guter Mann, ist Ihrer. Probieren Sie ihn an, wenn Sie wollen – gewöhnen Sie sich an ihn. Aber seien Sie vorsichtig mit den Reißverschlüssen, denn diese Dinger kosten uns einen Haufen Geld. Morgen fangen Sie an.«
»Ja! Ja! Ja!«, hauchte der andere Zwerg, erhitzt und taumelig wie ein Glühwürmchen.
In der folgenden, schlaflosen Nacht schaute Arzee wieder und wieder unter sein Bett, wo die formlose Masse des Flaschenanzugs in einer Plastiktüte darauf wartete, von ihm zum Leben erweckt zu werden. Er war völlig aufgelöst und wusste nicht, ob das noch schlimmer werden würde, wenn er denWeg der Flasche ging oder wenn er an seinem zerbröselnden Leben festhielt. »Arbeit ist Arbeit«, redete er sich ermunternd zu, presste sich die Hand auf die Stirn, versuchte sich zu beruhigen. »Es ist einfach ein Job.« Aber das war schwer zu glauben, wo doch klar war, dass er diesen Anzug, diese Arbeit nur bekommen hatte, weil er ein Zwerg war. Von den
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