Der kleine Koenig von Bombay
länger als dich. Aber ich kann es ihr nicht erzählen, weil ich es nicht ertrage, zu sehen, wie sie für mich leidet, denn dann leide ich noch mehr. Ab einem gewissen Alter muss man an seine Eltern denken, Deepakbhai. Wir brauchen sie nicht mehr – jetzt brauchen sie uns.«
»Meine Eltern sind tot«, sagte Deepakbhai. »Hinüber. Die brauchen mich nicht mehr.«
»Da hast du Glück, Deepakbhai. Nicht weil sie tot sind, sondern weil du dir keine Gedanken mehr darüber machen musst, was sie bedrücken könnte, so wie ich es jetzt tue. Aber zugleich hast du natürlich Pech, weil sie dein Glück nicht mehr teilen können. Aber auf dem Foto dort an der Wand sind sie noch da, Deepakbhai, und wachen über dich und deine Familie. Deine Eltern sind immer bei dir, Deepakbhai.«
»Ach ja?« Deepak lachte bitter. »Als sie noch gelebt haben, waren sie das nicht. Sie haben mich verflucht.«
»Dann verzeih ihnen, Deepakbhai. Danach wirst du dich besser fühlen, das verspreche ich dir.«
»Ihnen verzeihen!«, wiederholte Deepak in sarkastischem Ton.
»Wir machen alle Fehler, Deepakbhai! Versöhn dich mitihnen und setz neu an. Bitte, Deepakbhai – tu es mir zuliebe! Auf dem Boden des Haders kann die Rose des Friedens nicht gedeihen.«
»Das sage ich ihm auch immer«, sagte Deepaks Frau. »Genau das sage ich auch immer.«
»Ihr habt doch keine Ahnung«, sagte Deepak. Doch seine Stimme war heiser – er war gerührt. »Ich komme gleich wieder«, sagte er, stand auf und ging hinaus. Arzee schaute Deepaks Frau an, die mit den Schultern zuckte. Sie hörten ihn in einer Schublade kramen, dann schien er sich das Gesicht zu waschen. Nach ein paar Minuten kam er mit einem Zettel zurück, auf dem eine Telefonnummer stand. »So, genug Zeit verschwendet«, sagte er, wischte sich das Gesicht am Ärmel ab und machte ein paar Dehnübungen. »Hier, ruf diese Nummer an. Der Mann heißt Mehndi, er wird dir sagen, was du für ihn tun sollst.«
»In Ordnung, Deepakbhai. Ich stehe in deiner Schuld.«
»Wenn du den Job nicht willst, nimm ihn nicht an«, sagte Deepak. »Aber jammer mir dann nicht die Ohren voll. Sondern überleg dir selbst, wie du uns das Geld zurückzahlen kannst.«
»Mach ich. Danke, Deepakbhai. Und einen schönen Unabhängigkeitstag – auch wenn wir nichts davon haben. Mein Bein ist eingeschlafen, ich habe zu lang gesessen.« Arzee deutete eine Verbeugung in Richtung von Deepaks Frau an und sagte: »Gute Nacht, Ashaji.«
»Gute Nacht«, erwiderte sie mit strahlendem Lächeln.
»Du hast ganz schön zugelegt, seit ich deine Visage zum ersten Mal gesehen habe, kleiner Mann«, sagte Deepak, als er Arzee an die Tür brachte. »Du hast Hängebacken wie eine Bulldogge.«
»Ich weiß, Deepakbhai. Ich habe mich gehen lassen. Dein Gürtel umschließt deine Taille ganz straff, meiner dagegen ist wie ein – ein Planetenring. Deshalb trage ich mein Hemd über der Hose. Augenblick mal …«
»Warum gehen eigentlich dauernd deine Schnürsenkel auf?«
»Schlechte Qualität, Deepakbhai.« Arzee band sich den Schuh, richtete sich wieder auf und schaute plötzlich ganz verzückt drein. »Guck mal, Deepakbhai! Mir war gar nicht aufgefallen, dass man von eurem Flur aus das Noor sieht! Da drüben ist es, zwischen diesen beiden Gebäuden da!«
»So ist es«, sagte Deepak.
»Komm mal zu uns ins Kino, Deepakbhai, dann führe ich dich herum. Und komm bald, ehe es für immer zumacht. Dann wirst du verstehen, warum das so eine große Sache für mich ist.«
»Für dich ist alles eine große Sache, kleiner Mann«, sagte Deepak, während er sich eine Zigarette anzündete. Von innen ertönte das Zischen eines Schnellkochtopfs. »Kannst du den mal vom Herd nehmen?«, rief seine Frau. »Ich bin am Arbeiten!«
Deepak stöhnte und machte seine Zigarette aus. »Ich komme!«, rief er zurück, zuckte die Achseln und sagte zu Arzee: »Wozu hat man eigentlich eine Frau? Mach’s gut, kleiner Mann.«
»Mach’s gut, Deepakbhai. Ich werde diesen Mehndi anrufen. Hier geht’s lang – nein, hier.«
Arzee ging die nicht beleuchtete Treppe hinunter, und mit jeder Stufe fühlte er sich einsamer und verlorener als je zuvor. All seine verschiedenen Traurigkeiten schlängelten sich unter den Steinen hervor, mit denen er sie beschwert hatte, und ihmwurde klar, dass er sich nicht mehr belügen konnte und dass er nichts von dem, was er wollte, je würde erlangen können. Wozu hat man eigentlich eine Frau? Phiroz wusste es und sein künftiger Schwiegersohn auch,
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