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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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Grundlage fehlte.
    Zum ersten Mal seit fast zehn Jahren war Arzee nicht da, um zwischen den Filmrollenwechseln von seinem Platz hoch oben über der Welt die Gesichter und Körper der Männer und Frauen zu studieren, die unten auf der Straße vorbeigingen, einander beäugten, telefonierten, nachdachten und träumten, ohne zu ahnen, dass sie beobachtet wurden. Er war nicht da, um zu sehen, wie die rote Sonne im Schutz hoch aufragender Gebäude in die Umarmung des Meers gezogenwurde, während sich Menschen und Vögel auf den Heimweg machten. Man sah ihn weder um sechs am Teestand, wo er rasch einen Tee trank und eine Kleinigkeit aß, noch sah man ihn danach im Hof des Noor sich durch die wabernde Menge der Männer schlängeln, die auf den Beginn der Abendvorstellung warteten. Er wanderte nicht mehr heimlich im ewigen Dämmer des Noor zwischen den verschiedenen Stockwerken umher und plauderte mit den Damen, den Wänden oder sich selbst, noch begegnete er dem alten Phiroz, der in typisch Phiroz’scher Manier mit dem Babur oder seinen Göttern zugange war. So viele Jahre lang hatten die beiden Männer den großen Lichtstrahl am Leben gehalten, doch nun trennten sich ihre Wege wie die zweier Reisender an einer Gabelung. Und das war in Ordnung so. Das Noor zog sich aus dem Leben zurück, und Arzee aus dem Noor.
    Und dann eines Nachmittags stieß Arzee in Malad, zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, überraschend auf das Haus – er stieß auf das Haus, blieb stehen und betrachtete es lange. Es war ein großes graues Gebäude, drei Stockwerke hoch, auf einem eigenen Grundstück, das von einer hohen, mit Stacheldraht besetzten Mauer umgrenzt war. Die Fenster hatten getönte Scheiben und waren allesamt geschlossen; hinter dem abweisenden Tor bellte ein Hund, und auf dem Dach befanden sich mehrere Satellitenschüsseln. Auf einer Steintafel an der Mauer stand: »Das Refugium« und in kleineren Buchstaben darunter »Rajneesh Sharma«. Dies war die Wohnstatt des Besitzers des Noor, erbaut vor zwanzig Jahren, als Malad größtenteils noch freie Natur war – jenes Besitzers, der hinter all diesen Toren, Mauern und Türen sein geheimnisvolles Dasein führte, seine Anordnungen erließ, mit Menschenleben spielte, sein Gesicht verbarg.
    »Wegen dir ist mein Leben in die Brüche gegangen, wegen dir bin ich hier in diesem Teil der Stadt und bringe Leute zum Lachen, obwohl ich selbst traurig bin«, sagte Arzee, den Blick zu der Villa gehoben, und es war, als spräche er mit dem Gott, auf den er nicht vertraute. »Aber was schert dich das schon? Dir geht’s ja gut da drinnen.«
    Er spuckte gegen das Tor des »Refugium«, hob seinen Anzug vom Boden auf und ging weiter.
    In diesen Tagen des Alleinseins, Herumfahrens, Possenreißens und Grübelns dachte Arzee oft an die wohltuende große Dunkelheit, die er im Tausch gegen die grelle Buntheit dieser niederen Welt hinter sich gelassen hatte. Aber er dachte auch an eine Dunkelheit, die ihm neu war – die Dunkelheit der Welt von Phiroz’ Tochter Shireen. Ihre Welt war so finster wie der riesige Zuschaueraum des Noor, doch kein Lichtstrahl durchdrang ihr Dunkel, es gab nur Klang, keine Bilder. Aber wie schön hatte sie gesprochen! Was für ein besonderer Mensch war sie! Nur eben von Anfang an eingeschränkt, gebrochen, genau wie er. Hätten sie sich doch nur früher kennengelernt, vielleicht hätten sie einander mehr bedeuten können. Freunde waren sie schließlich gleich bei ihrer ersten Begegnung, gleich im ersten Moment geworden. Doch jetzt heiratete das Mädchen. Womit hatte ihr künftiger Mann sie verdient?
    »Ich schau einfach mal bei ihnen vorbei – sie hat ja selbst gesagt, dass ich wiederkommen soll«, dachte er sich eines Abends, und so ging er wieder zum Old Wadia Chawl, zum Gebäude Nr. 1 und in den ersten Stock hinauf, an dem Loch in der Wand vorbei. Diesmal schrillte die Kingel laut und deutlich, doch niemand öffnete, und es waren auch keine Stimmen zu hören. Eine Nachbarin erzählte ihm, Phiroz undseine Tochter seien morgens nach Udwada aufgebrochen, um den Feuertempel zu besuchen. Arzee hatte nichts zu tun, also ging er aufs Dach hinauf, setzte sich auf den Wassertank und rauchte, den Anzug zu seinen Füßen, den Blick auf das große NO gerichtet, das in der Ferne leuchtete.
    Bei Deepak schaute er nicht vorbei, denn auf den war er sauer. Er hatte langsam den Verdacht, dass Deepak sein Spiel mit ihm trieb. Deepak hatte versprochen, ihn anzurufen, wenn er Neuigkeiten für Arzee

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