Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
Vom Netzwerk:
echte Plackerei. Aber Vater beschwerte sich nie – er war ein Mann des Friedens. Selbst wenn Mutter sich, wie so oft, in einer ihrer ausschweifenden Tiraden erging, hörte Vater schweigend zu und wartete mit einem angedeuteten Lächeln ab, um das Ganze schließlich mit einem einzigen Satz zu beenden. Wahrscheinlich sparte sich Vater seine Worte für seine Sunshine-Elogen vor potenziellen Kunden auf.
    Im Erdkundeunterricht hatte Arzee einmal einen Stadtplan von Bombay bekommen, und als Vater ihm eines Tages einen grünen Textmarker schenkte, präsentierte Arzee ihm noch am selben Abend einen Stadtplan voll winziger grüner Fußabdrücke, die in gewundenen Linien rechts und links von der Bahnlinie abzweigten wie Blattadern von der Mittelrippe. Es war eine Karte von Vaters Verkaufstouren. Vater hatte sich so gefreut! Er hatte den Stadtplan einmal zusammengefaltet und in seine große Tasche gesteckt, und später erzählte er, dass er ihn auf längeren Zugfahrten oder beim Mittagessen oft hervorzog, um sich vor Augen zu führen, wo er gerade neue grüne Fußabdrücke hinterlassen hatte wie frische Kuhfladen. Bei dem Gedanken, dass er jetzt selbst mit seinen beiden grünen Flaschenbeinen Fußabdrücke in der ganzen Stadt hinterließ, musste Arzee lachen. Er trat in Vaters Fußstapfen.
    »Vater fehlt mir«, dachte er. »Manchmal vergehen Monate, ohne dass ich an ihn denke, und plötzlich taucht er wieder auf, jung wie damals, denn er ist ja nicht gealtert wie Mutter. Vater hätte alles verstanden – vor ihm hätte ich nichts verbergen müssen. Er hätte einen Weg gefunden, meine Wunden zu heilen, und ich hätte mich nicht um ihn sorgen müssen wie um Mutter.«
    Es war schon so lange her, dass Vater sie verlassen und jene Reise angetreten hatte, von der niemand wiederkehrt. 1986 war es geschehen, doch Arzee erinnerte sich so genau an den Tag, als wäre es erst gestern gewesen.
    Sie hatten sich zusammen auf den Weg gemacht, er in die Schule, Vater zur Arbeit. Mobin blieb an diesem Tag zu Hause, denn er hatte Fieber. Mutters Gesicht war immer noch fleckig von den Windpocken.
    Vater brachte ihn bis zur Grant Road Bridge und trug solange Arzees Wasserflasche. Er gab Arzee vier Annas, damit er sich in der Pause ein
kala-khatta –
Eis 13 kaufen konnte, und sie trennten sich.
    Ein Schmetterling schwebte über den Büschen an der Brücke. Arzee lief ihm nach, und als sich das Tier auf einem Blatt niederließ, bestaunte er die seidigen Flügel aus der Nähe.
    Dann drehte er sich um und sah, dass Vater immer noch da stand, wo sie sich getrennt hatten. Er hatte sich gerade die Schuhe neu gebunden und griff nun nach seiner großen Tasche. Vater sah, dass Arzee zu ihm hinüberschaute, winkte ihm zu und ging los. Von der einen Seite kam ein Bus, von der anderen ein Laster, also blieb er in der Mitte der Straße stehen, um beide vorbeifahren zu lassen.
    Doch Vater dachte nicht daran, dass seine große Tasche, die mit einem Tagesvorrat an Sunshine-Kartons gefüllt war, hinter ihm in die Fahrbahn ragte. In dem Moment, wo Arzee begriff, was passieren würde, und den Mund aufmachte, um zu schreien, hupte der Laster gellend, als wäre er selbst auf die Hörner genommen worden, und riss im Vorbeifahren die Tasche mit, so dass Vater vor den Bus geschleudert wurde.
    Vaters langer, entsetzter Schrei verklang nur langsam. Kreischend rannte Arzee zu ihm, so schnell er konnte.
    Er lief um den Bus herum, und dort lag Vater rücklings in einer Blutlache. Er war von aufgeplatzten Sunshine-Kartons umgeben, deren Inhalt sich über die Straße verteilt hatte.
    Danach erinnerte sich Arzee an nichts mehr.

    Und da Arzee schon sein Leben lang an Vorzeichen und Omen, versteckte Bedeutungen und Korrespondenzen glaubte,war ihm, als hätte ihn der Geist seines lang verstorbenen Vaters in diese eigenartige Zeit geführt – diese traumartige Zeit, in der er durch ferne, jenseits seiner täglichen Runde liegende Welten schwebte und sein eigenes Leben wie von einer Brücke aus betrachtete.
    Was mochte der Sinn dieser vatermäßigen Exkursionen sein? Sie kamen Arzee geradezu vor wie ein Fingerzeig, dass er die Stadt verlassen sollte. Dieser Gedanke ging ihm schon seit dem Tag durch den Kopf, an dem er heimatlos geworden war, und jetzt schienen seine Beine den Denkprozess noch weiter voranzubringen. Der grausige grüne Anzug, in dem er sich selbst zu vergessen schien, verriet ihm einiges über ihn selbst. Von seinem alten Leben war nur noch der Bodensatz übrig.

Weitere Kostenlose Bücher