Der kleine Koenig von Bombay
Schwingen des großen Lichtstrahls ins Gefängnis dieser Flasche – welch rasanter, tiefer Sturz!
»Und keiner weiß davon«, dachte er. »Da drüben schläft mein Bruder und hat keine Ahnung, und auf der anderen Seite dieser Wand liegt Mutter, und auch sie hat keine Ahnung. Mein geheimes Leben dehnt sich mit jedem Tag weiter aus, wie ein Schatten, der mich verbirgt. Ach, das Noor! Es war mir ein Schutzwall, der mich vor Demütigung und Erbärmlichkeit bewahrt hat – vor den Brosamen, die mir die restliche Welt hinwirft. Möge diese Nacht doch niemals enden – möge der Tag nie anbrechen! Aber er wird anbrechen, das weiß ich.«
Und als Arzee dann am nächsten Tag im Laden eines Freundes von Mehndi in den Flaschenanzug gestiegen war und in Breach Candy vor einer Reihe von Kaufhäusern auf den Bürgersteig hinaustrat, hätte er alles dafür gegeben, in die Gosse fallen und sterben zu dürfen. Er hatte pochende Kopfschmerzen und einen trockenen Hals. Obwohl er den Anzug und darunter seine Kleider trug, fühlte er sich splitternackt. Jedes Mal, wenn ihn jemand interessiert betrachtete, war ihm, als bohrte sich dieser Blick durch die Hülle und entdeckte, dass er es war, Arzee, der Filmvorführer des Noor, der zu dieser kläglichen Clownerei gezwungen war, wie ein Affe, den man seinem heimischen Wald entrissen und das Tanzen gelehrt hatte. »Limzee, Limzee!«, krächzte er und hoffte, dass ihn keiner bemerken würde. Ihm war so heiß, dass ihmder Schweiß in Bächen den Körper hinunterrann. Er hätte gern einen Moment lang das Kopfteil abgenommen, aber das ging nicht, denn dann hätte er sich gezeigt. Die Minuten verstrichen qualvoll langsam, und die Sonne kroch kaum merklich über den Himmel, so dass er meinte, bis zum Abend müsste der Anzug mit seinem Körper verschmolzen sein und er würde fortan so durchs Leben gehen müssen. Als seine Arbeitszeit herum war, riss sich Arzee das scheußliche Grün vom Leib, und dann sank er in der Umkleide zu Boden und gab sich seinen Tränen hin.
Die Nacht glich der vorangegangenen, und der zweite Tag dem ersten.
Am dritten Tag jedoch schickte Mehndi Arzee in ein Einkaufszentrum im fernen Dahisar. In Dahisar hatte niemand Arzee je zuvor gesehen, und nach diesem Tag würde man ihn dort auch nie wieder sehen: Er war ein Fremder, der für einen Tag zum Arbeiten in einen fernen Vorort kam. Der junge Mann in dem Laden, in dem er sich umziehen sollte, war erst neunzehn, und als Arzee ihm erzählte, dass er Filmvorführer war, stellte der Junge ihm viele Fragen über das Kino, ja, er wollte sogar einmal vorbeikommen. Er schien anzunehmen, dass Arzee diese Arbeit aus Spaß an der Freude machte, und das gefiel Arzee. In Dahisar dachten die Leute anders!
Ein Weilchen tapste Arzee an diesem Nachmittag stumm zwischen den Einkaufenden umher. Dann entdeckten ihn ein paar freche, verzogene Kinder und kamen herüber, um ihn zu inspizieren, sie zerrten von hinten an ihm und versuchten immer wieder, ihm das Kopfteil über die Augen zu ziehen, damit er nichts mehr sah. Da sie seine Proteste ignorierten, begann er zu knurren, um sie zu verscheuchen. Aber das schien sie nur noch mehr zu belustigen, und schließlich hingen sie an ihmwie rote Ameisen an einem Brotkrümel. Arzee gelang es, sich zu befreien, doch als er auf die Rolltreppe sprang, verlor er das Gleichgewicht und purzelte hinunter.
Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ihn das allseitige johlende Gelächter nicht ärgerte – er stand auf und verbeugte sich sogar. Dann stieß er einen krächzenden Schrei aus und schickte gleich noch einen hinterher. Im Kino hatte er oft über die Komiker und ihre Verkleidungen nachgedacht, doch jetzt erlebte er zum ersten Mal selbst, dass eine Maske einen Menschen von der Last seiner selbst befreien kann. Arzee geriet richtig ins Schwitzen, als er nun von einer Etage zur anderen tollte, all die Sorgen, die sich in seinem Innern wie Wolken aufgetürmt hatten, im wahrsten Sinne des Wortes abschüttelte und sich als kleine Limzee bedenkenlos Freiheiten mit den Körperstolzen nahm.
Und so widmete Arzee zum ersten Mal seit jenem Monat im Jahr 1998, als Indien im Sharjah Cup gegen Australien gewann, die besten Stunden seines Tages nicht dem Noor. Manchmal erschien er für eine Vorstellung, manchmal blieb er auch ganz weg und überließ alles Phiroz und Sule. Und es freute ihn zu sehen, dass Abjani nicht den Mut aufbrachte, ein kritisches Wort zu äußern, weil er wusste, dass ihm dazu jede
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