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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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Aber wenn er mit seiner Vergangenheit abschließen und irgendwo anders, wo ihn keiner kannte, neu anfangen könnte, würde er sich auch selbst neu erleben, und vielleicht würde er sich ein neues Leben aufbauen können.
    »Es liegt an der Stadt!«, dachte er. »Die Stadt hat mich geschaffen, und die Stadt presst jetzt das Leben wieder aus mir heraus. Aber die Stadt ist nicht alles, und das sagt Vater mir jetzt. Wenn ich hierbleibe, werde ich mich jeden Tag in Trauer und Elend suhlen und darin ersaufen. Aber wenn ich erst mal hier weg bin und unter einem anderen Himmel erwache und nicht aus jedem Blickwinkel das Noor vor mir sehe, dann – ja, wie lang werde ich dann um dieses untergegangene Leben trauern? Phiroz, Abjani, meine Freunde, diese Straßen – mit der Zeit werden sie für mich wie Figuren und Orte aus einer Geschichte werden. Ich werde weit weg gehen, alles hinter mir lassen. Auf der anderen Seite wartet ein neuer Arzee auf mich. Osten, Westen, Norden, Süden – alle Richtungen rufen! Ich werde mich auf den Weg machen und schauen, was dasLeben sonst noch so zu bieten hat. Jedenfalls ist das meine letzte Regenzeit in Bombay, so viel steht fest.«
    Der neunte Tag seines Flaschendaseins führte Arzee nach Jogeshwari, wo ein neues Einkaufszentrum gebaut worden war – und zugleich führte er ihn aus den roten Zahlen: Arzee schuldete dem Syndikat nun keinen Penny mehr. Eigentlich konnte man ja sagen, dass er dem Syndikat trotz der schweren Zeiten, die er gerade durchmachte, fünftausend Rupien
gespendet
hatte, denn die Hälfte des Geldes, das er ihnen angeblich schuldete, hatte schließlich nie wirklich existiert. Dafür war ihm Deepak eindeutig etwas schuldig, aber Arzee hatte genug von Deepaks großen Worten.
    »Was hat er geprahlt!«, dachte er, während er durch Jogeshwari lief. »Im Salz des Rann von Kachchh – ha! In den Schluchten des Chamal-Tals – ha! Entweder war er an diesem Tag gut drauf, weil ihm jemand einen schönen Joint gebaut hat, oder er hat bloß Anteilnahme geheuchelt, damit ich ihm in die Falle gehe und er das Syndikat nicht mehr im Nacken hat. Deswegen hat er sich stundenlang mit mir unterhalten, mir alle möglichen Fragen gestellt und all meinen Bitten entsprochen. Und jetzt, wo ich, in einem Flaschenanzug schmorend, jeden Quadratmeter dieser Stadt abgelaufen bin und meine Schulden abbezahlt habe, hält er es nicht mal mehr für nötig, meine Anrufe anzunehmen. Diesen Verrat werde ich ihm nicht vergessen – den werde ich ihm eines Tages doppelt heimzahlen. Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast, Deepakbhai. Wart’s nur ab.«
    Und noch eine andere Art von Erregung breitete sich in Arzees Innerm aus – eine Erregung und ein Verlangen, die aus seinen Lenden aufstiegen. An diesem Morgen hatte ihm Mehndi tausend Rupien Vorschuss auf die Bezahlung der letztenzwei Arbeitstage gegeben, und jetzt brannten ihm die zehn Scheine ein Loch in die Tasche und wollten unbedingt raus. Bisher hatte sich Arzee jeden Tag vor der Arbeit einen Drink gegönnt, doch heute war ihm nach mehr als einem Drink zumute. Er hatte Lust auf ein bisschen Gesellschaft bei seinem Drink, und jetzt hatte er auch das nötige Geld dafür. Das hatte ihm schon die ganze Zeit gefehlt, ein bisschen Gesellschaft, und jetzt konnte er sie sich kaufen wie Seife oder Samosas. Berühren war in diesen Etablissements für ihn natürlich nicht drin, das wusste er. Aber Mädchen anzuschauen, den Duft von Mädchen einzuatmen, mit Mädchen zu reden – auch das alles war eine Art von Berührung.
    Ein Augustnachmittag vor zwei Jahren. An seinem freien Tag war er eine Straße wie diese entlanggegangen, und an einem Gebäude in der Lamington Road hatte er im ersten Stock ein Schild gesehen, auf dem »Tony’s Hairdressers« stand. Er war vor einem Schaufenster stehen geblieben und hatte sein Spiegelbild betrachtet, insbesondere sein widerspenstiges Haar. Arzee war noch nie in einem Friseursalon gewesen – schließlich konnte er sich bei ihnen um die Ecke bei einem Straßenfriseur für ganze fünfzehn Rupien die Haare schneiden lassen. Aber heutzutage ließen sich ja alle, vom Schulkind bis zur Großmutter, irgendwelche schicken Frisuren verpassen. Warum sollte er es nicht mal probieren? Also betrat er das Gebäude, ging in den ersten Stock hinauf, überlegte es sich anders und ging wieder hinunter, ging abermals nach oben und stieß zögernd die Milchglastür mit der Aufschrift »Tony’s« auf und …
    Nein, er würde nicht zulassen,

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