Der kleine Koenig von Bombay
Monique lachend rief: »Schnitt! Schnitt!«, als wären sie bei den Dreharbeiten zu einer Kochsendung.
Ein andermal hielt Monique einen Stapel alter Zeitungen hoch und sagte: »Was ist nur los auf dieser Welt? Überall Bombenanschläge und Morde. Warum können die Menschen nicht einfach in Ruhe und Frieden zusammenleben? Kannst du mir das erklären, Arzee?« Er antwortete: »Nein, ich bin nämlich auch ein gewalttätiger Mensch«, und packte sie an der Taille, und dann fielen sie quiekend und strampelnd zusammen aufs Sofa.
An wieder einem anderen Tag sagte sie gar nichts, war melancholisch und schweigsam und lachte nicht über seine Witze, denn wie er dann erfuhr, war es der Todestag ihres Bruders, der dreiundzwanzig Jahre zuvor tot zur Welt gekommen war. Wäre er noch am Leben, wäre er inzwischen ein junger Mann namens Martin oder Joachim, würde bei einer Bank oder P R-Firma arbeiten und hätte zweifellos eineFreundin, denn er wäre attraktiv, mit langem, geglättetem Haar und einem goldenen Ohrstecker. Doch im Moment seines Eintritts in die Welt wurde ihm sein Leben unerklärlicherweise genommen.
Ein buntes Sammelsurium solcher Erinnerungen – Fitzel und Fragmente seiner Stunden mit Monique – im Hinterkopf, stürmte Arzee eines Abends, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und klopfte dabei auf dem Oberschenkel den Rhythmus eines tollen Songs, den er auf der Heimfahrt in der Autorikscha gehört hatte. Er reckte den Arm hoch, klingelte und deckte dann wie immer mit dem Finger den Spion ab, damit Monique wusste, dass er es war. Die Tür schwang auf, doch als Arzee vortrat, das Gesicht zu jener Grimasse mit zugekniffenem Auge verzogen, die Monique immer zum Lachen brachte, musste er feststellen, dass nicht Monique vor ihm stand, sondern ein Koloss von einem Mann, dessen Gesicht ebenfalls verzerrt war wie das einer Figur aus einem Schwank.
»Entschuldigung, Onkel, falsches Stockwerk«, sagte Arzee und wandte sich zum Gehen, doch noch während er diese Worte aussprach, glich er das Gesicht dieses Herrn mit dem des glubschäugigen Mannes auf dem Foto an Moniques Wand ab und begriff, dass es sich um niemand anderen als ihren Vater handelte. Ihren
wütenden
Vater.
»Falsches Stockwerk? Richtiges Stockwerk!«, donnerte der Mann. »Warum stehst du so rum? Rein mit dir!«
»Okay, Sir. Guten – guten Tag. Soll ich die Schuhe ausziehen?«, fragte Arzee, doch kaum war er über die Schwelle getreten, wusste er, dass etwas nicht stimmte, denn die Wohnung, die er so gut kannte, hatte nicht mehr diese typische Monique-Atmosphäre. Monique hatte durchaus von ihremfurchterregenden Vater erzählt, von seiner Verachtung für mehr oder weniger die gesamte Menschheit, seiner Liebe zum Alkohol und seinem aufbrausenden Temperament, aber es war nie davon die Rede gewesen, dass er eines Tages einfach so aus dem fernen Goa hier auftauchen könnte. Moniques Vater folgte Arzee durch den kleinen Flur, und als sie ins Zimmer traten, sah Arzee, dass der Boden von heruntergeschmissenen Gegenständen übersät war und Monique in der Ecke auf einem Stuhl saß und sich mit einem Taschentuch die Augen tupfte.
»Was ist denn hier los?«, fragte er und wandte sich beklommen dem riesigen Mann zu. »Die Sachen sind ja alle kaputt. Das ist aber nicht recht, Sir.«
»Das ist nicht recht?«, wiederholte Moniques Vater unfreundlich und machte eine Geste, die aussah, als mäße er Arzee von Kopf bis Fuß ab. »Ist das vielleicht recht?«
»Ich bin einfach nur ein bisschen klein, Sir, aber das hat nichts zu bedeuten. Ihrer Tochter bedeutet es nichts, Sir. Ihre Tochter liebt mich, so wie ich bin. Und wenn Sie sich erst mal daran gewöhnt haben, werden Sie sehen, dass –«
Doch kaum hatte er »liebt mich« gesagt, wusste Arzee, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn dieses Scheusal kam auf ihn zugestürmt, und ehe er sich’s versah, war sein Kopf von einer gewaltigen Ohrfeige um neunzig Grad gedreht worden. Arzee war seit seiner Kindheit nicht mehr geohrfeigt worden, und als ihm nach einem Schmerzensschrei das Blut zu Kopf stieg, vergaß er, wen er liebte und wer ihn liebte und warum er hier war und was die Vernunft gebot. Er sah, wie sich die große Hand zu einem weiteren Schlag hob, sprang nach vorne und rammte den Kopf in den Bauch vor ihm. Moniques Vater zuckte zusammen, beugte sich vor und gelangtedadurch in verlockende Reichweite, und Arzees Hand schoss unwillkürlich zu der großen bebenden Wange vor und
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