Der kleine Koenig von Bombay
Eigentlich wollte ich es ihr gestern Abend sagen, aber ich war zu kaputt, weil ich mich nachmittags betrunken hatte und eine Weile völlig weg war. War sie … war sie sehr aufgebracht?«
»Das konnte ich am Telefon nicht erkennen. Ich höre mit diesem Apparat nicht sehr gut.«
»Wahrscheinlich schon. Noch vor einer halben Stunde war ich mit ihr zusammen zu Hause. Sie hat gewartet, bis ich weg bin, und dich dann angerufen, Phirozbhai!«
»Einfach wird es sicher nicht«, stimmt Phiroz ihm zu. »Aber es ist nicht meine Schuld. Ich wusste das nicht. Aber wenn du willst, entschuldige ich mich.«
»Ist schon okay, Phirozbhai. Irgendwann musste es ja dazukommen. Meine Mutter hat feine Antennen. Mach dir keine Gedanken. Kümmer du dich um die Hochzeit.«
»Das alte Gold«, murmelte Phiroz und wandte sich dem Babur zu.
Mutter! Arzee trat ans Fenster, und als er hinunterschaute, sah er seine Mutter, jünger und schlanker, und sich selbst – klein für sein Alter, aber noch nicht im Zwergendasein isoliert – auf den Kartenschalter des Noor zugehen. Es war Ende der achtziger Jahre. Damals war das Noor noch ein respektables Lichtspielhaus, in das auch Familien gingen. Mit Mutter hatte alles begonnen. Nach dem Film hatte Arzee das Kino unbedingt von dem Raum aus anschauen wollen, aus dem der Lichtstrahl kam. Und da hatte seine Mutter, die damals nichts übers Kino wusste, außer wie man seinen Platz findet, Popcorn kauft und bei Abschiedsszenen von Liebespaaren weint, bei dem seltsam aussehenden Geschäftsführer Mister Abjani die Erlaubnis eingeholt und ihn hier hochgeführt. Sie waren langsam die schmale Treppe hinaufgestiegen, und dann hatten sie zum ersten Mal den Kopf durch die Tür des Vorführraums gesteckt. Phiroz war damals noch jünger gewesen, Damen gegenüber ganz der Gentleman, und er hatte kein Wort gesagt, als Arzee im Vorführraum herumrannte, Schubladen aufriss, gegen den Babur stieß und trat und durchs Kabinenfenster spähte. Schließlich hatte Mutter gesagt: »So, jetzt gehen wir und stören diesen netten Onkel nicht mehr länger, wir können ja ein andermal wiederkommen.« Arzee war mit vielen unbeantworteten Fragen gegangen. Doch im Laufe der Zeit hatte er sie sich alle selbst beantwortet, und indem er das tat, hatte er die große Frage seines Lebens beantwortet, nämlich ob es auf dieser Welt einen Platz für ihn gab. Mutter hatte sich damals so für ihn gefreut, und jetzt würde sie sich furchtbar grämen.Denn genau das hatte sie immer befürchtet – dass er, ihr Erstgeborener, weil er von der Norm abwich, jeden Halt im Leben verlieren und als unzufriedener, bedürftiger Mensch enden würde. Und jetzt wusste sie es. Phiroz hatte es ihr erzählt.
Arzee roch Sandelholz und merkte, dass Phiroz hinter ihm stand und ebenfalls hinausschaute. Seine Oberlippe, des schützenden Schnauzbarts beraubt, zitterte.
»Wenn Sule noch unten ist, schicke ich ihn hoch und gehe heim, Phirozbhai«, sagte Arzee. »Ich muss mit meiner Mutter reden, bevor sie mit mir redet. Ich werde so tun, als wüsste ich nicht, dass sie mit dir gesprochen hat.«
»Mach das«, sagte Phiroz.
»Eltern können ein echtes Problem sein, Phirozbhai. Sie brauchen mehr Fürsorge als Kinder.«
»Ach ja?«, sagte Phiroz mit wackeliger Stimme, und plötzlich verzerrte sich sein nacktes Gesicht. »Meine Tochter zieht in zwei Tagen bei mir aus. Ich hoffe nicht, dass sie mich für ein Problem hält.«
»So habe ich das nicht gemeint, Phirozbhai – du hast mich völlig falsch verstanden! Was ich gemeint habe ist, dass meine Mutter – nur meine Mutter – ein Problem ist. Du nimmst alles ganz ruhig hin, Phirozbhai. Du kannst gar kein Problem für jemand anders sein.«
»Ich hoffe, meine Tochter sieht das auch so«, sagte Phiroz. »Ich hoffe, sie wird mich ab und zu mal besuchen kommen. Ich werde sie nicht darum bitten. Wenn sie es will, wird sie kommen.«
»Das wird sie, Phirozbhai, keine Sorge. Darüber reden wir demnächst mal ausführlicher. Und diesen letzten Monat werden wir zu einem Monat machen, an den wir uns gern erinnern. Aber jetzt muss ich gehen, Phirozbhai.«
»Es liegt in ihrer Hand«, sagte Phiroz und wandte sich ab.
Während er das Noor verließ, wurde Arzee zum ersten Mal bewusst, dass nicht nur sein, sondern auch Phiroz’ Leben bald von unausgefüllter Zeit ausgefüllt sein würde. Phiroz würde nur noch seine Götter und Vögel zur Gesellschaft haben, nur noch über einen Packen Erinnerungen nachsinnen können, während
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