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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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beste Gesellschaft. Ich werde immer in Bewegung bleiben, zu Fuß, mit dem Bus, mit dem Zug. Ich werde leben – oh ja! Ich werde reden. Ich werde antworten, wenn man mich etwas fragt. Ich werde lächeln, wenn ich angelächelt werde. Aber ich werde nicht toben. Ich werde nicht weinen. Ich werde meine Stimme nicht erheben. Ich werde von dieser Welt sein und ihr doch nicht angehören – nichts wird mich mehr bedrücken oder bedrängen, denn ich habe das Schlimmstmögliche bereits erlebt. Und ich werde mich auch nicht mehr elend fühlen, denn wie soll das Leidnach alldem noch irgendeine Macht über mich haben? Ja … wenn ich am Fuße eines Berges erwache, wenn die Straße eine Kurve macht und ich plötzlich das Meer vor mir sehe, wenn ich Kinder beim Spielen lachen höre, wenn ich mein kärgliches Mahl mit jemandem teile, dem es noch schlechter geht als mir – dann werde ich wissen, wer ich bin und was mein Leben ist. Ich habe schon so viele Leben gelebt, Wiedergeburten erfahren! Jetzt lebe ich ein weiteres Leben: Ich werde ein neuer Mensch. Ich war so unglücklich, so verzweifelt, so niedergeschlagen! Aber jetzt bin ich im Frieden, jetzt bin ich stark, weil ich mein Scheinleben hinter mir gelassen habe. Ich werde nicht gegen mein Schicksal ankämpfen, sondern es annehmen, zum ersten Mal in meinen vielen Jahren. Mit dieser Wahrheit zu leben,
in
Wahrheit zu leben – das muss ich lernen. Und diesmal werde ich mich nicht vor Mutter fürchten, denn ich muss tun, was ich tun muss. Ich fürchte mich vor nichts und niemandem mehr. Achtundzwanzig Jahre lang habe ich mich von unten mit der Welt auseinandergesetzt. Aber jetzt werde ich über allem stehen, und man wird mich nicht mehr treffen können.«
    Er war schon fast zu Hause angelangt, da fiel ihm der schmale Durchgang zu seiner Zuflucht ins Auge, wo er zahlreichen Hoffnungen nachgehangen und seinem Groll Luft gemacht hatte, und er bog ein. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte ein schlammiger Schmodder den Boden bedeckt, doch nach der Trockenheit der letzten zwei Wochen war das Gras verdorrt und der Boden rissig geworden. Die braunen Frösche, die an jenem Tag mit solcher Energie herumgehüpft waren – wie Verkörperungen seiner Gedanken –, waren nirgends zu sehen, doch der kaputte rote Plastikstuhl und die Klobrille lagen immer noch da. Arzee ging bis zu der Steinmauer vorund kletterte, in den Mauerrissen Halt suchend, hinauf. Zwei Krähen hüpften krächzend auf der Mauer herum und flogen auch nicht weg, als er oben ankam, als wäre er eine von ihnen. Arzee richtete sich auf und schaute hinunter. Das trübe Wasser, in steter Veränderung und doch immer gleich, floss gemächlicher als sonst, doch der beißende Gestank brannte noch genauso in der Nase. Sein eigenes Gesicht schaute ihm aus dem Wasser entgegen, und es kam ihm bereits verändert vor, ein vom Leben gezeichnetes Gesicht, als hätte er innerhalb eines einzigen Tages ein ganzes Menschenalter durchlebt.
    Erst vor zwei Wochen hatte er hier oben gestanden und sich wie ein König gefühlt – zwei Wochen war das erst her! Er hatte an eine Ehefrau gedacht, an seine Beförderung, an das Anwachsen seiner Macht unter zwei Dächern und dem Himmel über der Straße, die sie miteinander verband. Er musste lachen, als er sich vor Augen hielt, wie sehr er sich getäuscht hatte, und die Krähen erschraken bei diesem gequälten Gacksen und flogen davon. Ein undefinierbares rundes Stück Abfall, das auf dem wispernden schwarzen Wasser trieb, erinnerte ihn an den Brunnen in Phiroz’ Haus. Er hatte schon immer ein eigenartiges Verhältnis zum Wasser gehabt, als wüsste er tief in seinem Innern, dass ihn das Wasser zu dem gemacht hatte, was er war. Angeblich war Wasser ja Leben, doch es war auch Tod. Ein seltsames Gefühl überkam Arzee dort oben auf der Mauer, er taumelte und wäre fast gestürzt.
    »Soll ich?«, dachte er, und in seinem Kopf herrschte ein gewaltiges Lärmen. »Es wird ganz schnell gehen, und dann ist alles vorbei! Ich werde diese trügerische Welt hinter mir lassen – die Schwingen des Todes werden mich rasch davontragen! Die rohe Tyrannei, der ich ausgesetzt war – mit einer kleinen Bewegung wird sie aus und vorbei sein.«
    Er schaute in den Himmel. Ihm war, als würde sein Name gerufen, mit jedem Mal, da er ihn hörte, lauter – »Arzee! Arzee! ARZEE!« Es musste das Tosen sein, das Selbstmörder im Geiste hören, wenn sie sich dem Moment des Übergangs nähern, der anschwellende Klang des

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