Der kleine Lord
jetzt nicht das Glück gehabt,
seinen Großvater zu kennen,« erwiderte Mrs. Errol,
»aber ich weiß, daß mein Kind glaubt
–« sie hielt inne, sah den Grafen ruhig an und
setzte dann hinzu: »Ich weiß, daß Cedrik Sie
lieb hat!«
»Würde er das wohl auch gethan
haben,« bemerkte der Graf trocken, »wenn Sie ihm
gesagt hätten, weshalb ich Sie nicht im Schlosse
empfange?«
»Nein,« erwiderte Mrs. Errol bestimmt,
»ich glaube kaum, deshalb wollte ich ja nicht, daß er
es erfahren sollte.«
»Nun,« sagte der Graf rauh, »viele
Frauen gibt es nicht, die in dem Falle geschwiegen
hätten.«
Er begann auf einmal, hastig im Zimmer auf und ab zu gehen,
wobei der Bart grausamer als je mißhandelt wurde.
»Ja, er hat mich lieb,« sagte er,
»und ich habe ihn lieb. Ich kann nicht sagen, daß mir
das oft mit Menschen passiert ist. Ich hab' ihn lieb. Im ersten
Augenblick hat er mir gefallen. Ich bin alt und war des Lebens
überdrüssig – seit ich ihn habe,
weiß ich, wofür ich lebe. Ich bin stolz auf ihn; es
hat mir wohl gethan, zu denken, daß er einst das Haupt unsres
Hauses sein werde.«
Er blieb vor Mrs. Errol stehen.
»Ich bin unglücklich und elend –
– elend!«
Man sah es ihm an. Nicht einmal sein Stolz war im stande,
Stimme und Hände vor dem Zittern zu bewahren, und einen
Augenblick war es, als ob Thränen in den tiefliegenden Augen
ständen. »Vielleicht bin ich deshalb zu Ihnen
gekommen, weil ich so elend bin,« fuhr er fort, sie
förmlich mit den Augen verschlingend. »Ich habe Sie
gehaßt; ich bin eifersüchtig gewesen auf Sie. Diese
niederträchtige, jammervolle Geschichte hat alles anders
gemacht. Nachdem ich die ekelerregende Person, die sich die Frau meines
Bevis nennt, gesehen hatte, war mir's, als müßte es
eine Wohlthat für mich sein, Sie zu sehen. Ich bin ein
eigensinniger alter Narr gewesen, und ich glaube wohl, daß ich
Ihnen übel mitgespielt habe. Sie sind wie der Junge
– und der Junge ist das einzige, was ich auf der Welt habe.
Ich bin elend, und nur weil Sie ebenso sind wie der Junge, und weil er
Sie lieb hat, und ich ihn lieb habe, bin ich zu Ihnen gekommen. Um des
Jungen willen, seien Sie nicht hart gegen mich!«
Er sagte das alles in seinem rauhen, herben Tone, schien aber
so ganz und gar gebrochen und tief gedrückt, daß Mrs.
Errols Herz voll Sympathie und Mitleid überströmte.
Sie rückte einen Lehnstuhl heran.
»Wenn Sie sich nur setzen wollten,« sagte
sie in ihrer einfachen, herzgewinnenden Weise. »Der Kummer hat
Sie müde gemacht und Sie brauchen jetzt all Ihre
Kraft.«
Daß man so einfach und liebevoll mit ihm sprach und
für ihn sorgte, war ihm ebenso neu, wie der erfahrene
Widerspruch, auch dies erinnerte ihn an »seinen
Jungen«, und er that, wie ihm geheißen. Vielleicht
war diese Verzweiflung und diese bittere, abermalige
Enttäuschung recht heilsam für ihn. Wenn dies Elend
nicht über ihn hereingebrochen wäre, hätte
er die kleine Frau noch immer mit Haß und Abneigung
betrachtet, während er jetzt in ihrer Nähe Trost
fand. Freilich war es nicht allzu schwierig, ihm zu gefallen, nachdem
er »die andre« gesehen, aber dies Gesichtchen und
diese Stimme waren doch besonders wohlthuend und in ihren Bewegungen
und ihrer Sprache lag ein sanfter eigenartiger Reiz, unter dessen
unwiderstehlichem Zauber er sich bald weniger gedrückt
fühlte und mitteilsam wurde.
»Was auch daraus werden mag,« sagte er,
»für den Jungen soll gesorgt sein, jetzt und
für die Zukunft.«
Als er sich zum Gehen anschickte, sah er sich im Zimmer um.
»Gefällt Ihnen das Haus?« fragte er.
»O gewiß,
außerordentlich,« lautete die aufrichtige Antwort.
»Ein gemütliches, heiteres Zimmer,«
bemerkte er. »Darf ich wiederkommen und die Sache mit Ihnen
durchsprechen?«
»So oft Sie wollen, Mylord!«
Darauf stieg er in seinen Wagen und fuhr davon, Thomas und
Henry aber waren vor Erstaunen über diese neue Wendung der
Dinge in der That sprachlos.
Zwölftes Kapitel
Der Retter in der Not
Selbstverständlich drang die Geschichte von Lord
Fauntleroy und der schwierigen Lage Graf Dorincourts aus den englischen
Zeitungen auch in die amerikanischen, sie war viel zu interessant, als
daß man sie sich hätte entgehen lassen
können, und dort wie hier bildete sie bald das
Tagesgespräch. Der Lesarten waren allmählich so viele
geworden, daß eine gewissenhafte Zusammenstellung derselben
zum Kapitel der Mythenbildung
Weitere Kostenlose Bücher