Der kleine Mann
der Öffentlichkeit vorzeitig zu präsentieren?
Immerhin, zweitausend Zuschauer hatten die Sensation miterlebt und den winzigen Zauberlehrling mit eignen Augen gesehen. Das Gerücht, das die Stadt durchlief, hatte also viertausend Beine. Und daß es nur ein Gerücht war, machte das Ganze fast noch spannender, noch aufregender, noch interessanter.
An diesem Abend, vorm zweiten Auftreten des Kleinen Mannes, drängten und drängelten sich über hunderttausend Menschen vorm Zirkuszelt.
15. Kapitel
Die zweite Vorstellung und die zweite Sensation: Mäxchen als Flieger / Das Stilke-Archiv / Ein Filmangebot aus Hollywood / Briefwechsel mit dem Dorfe Pichelstein / Ein königliches Geschenk aus dem Königreich Breganzona.
Hunderttausend Menschen! Das waren achtundneunzig-tausend zuviel! Sie belagerten sofort die Kassenschalter für den Vorverkauf, und nach ein paar Stunden gab es für die gesamte Dauer des Gastspiels keinen einzigen Platz mehr, obwohl der Zirkus Stilke noch vierzig Tage in der Stadt bleiben würde und obwohl ein Zuschlag von einer Mark für den Sitz erhoben wurde!
Drei Lieferwagen fuhren das Geld noch in der Nacht zu den Panzerschränken der Wach- und Schließgesellschaft. Sicher ist sicher, dachte Direktor Brausewetter.
Die Vorstellung selber, also die zweite Vorstellung, wurde für ,den großen Dieb und den Kleinen Mann £ wieder zu einem Triumph. Die Leute vom Fernsehen waren mit ihren Apparaten erschienen. Überall hockten Fotografen mit ihren Kameras und Blitzlichtern. Die Reporter und die in- und ausländischen Korrespondenten hielten die Augen offen und die Notizblöcke auf den Knien.
Für die übrigen Artisten war der Abend, trotz des ausverkauften Hauses, keine reine Freude. Denn sie alle wußten ja, daß die ungeduldigen Zuschauer samt der Presse und den Ehrengästen nur auf den Jokus und auf Mäxchen warteten.
Ganz recht, Ehrengäste waren auch erschienen. Der Oberbürgermeister mit der goldnen Kette um den Hals, seine zwei Bürgermeister, der Stadtkämmerer, die Stadträte, der amerikanische Generalkonsul, drei Bankdirektoren, ein Schwarm Filmproduzenten, Intendanten und Chefredakteure und sogar der Rektor der Universität, der vor vierzig Jahren zum letztenmal in einem Zirkus war.
Zwei dieser Ehrengäste holte sich Professor Jokus von Pokus prompt in die Manege und bestahl sie mithilfe des Kleinen Mannes nach Noten: den Oberbürgermeister und den amerikanischen Generalkonsul!
Dem Oberbürgermeister stibitzte er zum Schluß die goldne Amtskette, und die Hosenträger knöpfte Mäxchen dem Herrn Generalkonsul ab. Da wurden die zweitausend Besucher schrecklich vergnügt. Und wie der Amerikaner die Hosen verlor, — wer, glaubt ihr wohl, lachte am lautesten und längsten? Der Amerikaner selber! Das machte das Publikum noch viel vergnügter.
Als das Rundgitter hochgestiegen war und der Jokus der staunenden Menge seinen kleinen Mitarbeiter gezeigt hatte, kündigte er eine weitere Sensation an. „Jetzt“, rief er, „wird der Kleine Mann auf dem Rücken seiner Freundin, der Taube Emma, in die Zirkuskuppel emporfliegen und nach einem Rundflug, hoch über unseren Köpfen, sicher und wohlbehalten auf meiner ausgestreckten Hand landen!“
Und so geschah’s. Die Kapelle schwieg. Nicht nur, weil es ihr befohlen worden war. Sie hätte ohnedies keinen Ton herausgebracht.
Die einzigen Lebewesen, die während des abenteuerlichen Fluges keinen Funken Angst zeigten, waren Emma und Mäxchen. Er hielt sich mit der Rechten lässig an der blauseidnen Schleife fest, die der Jokus der Taube vorher mit äußerster Sorgfalt um den Hals gebunden hatte.
Emma startete seelenruhig, schraubte sich in Spiralen bis zur Kuppel hinauf, flog dort dreimal die Runde und glitt schließlich, wie ein kleines weißes Segelflugzeug, in eleganten Kurven tief und tiefer, bis sie auf der ausgestreckten Hand des Professors aufsetzte. So hatte diese Hand noch nie im Leben gezittert. Und der Zirkus seufzte erleichtert auf wie ein aus einem Albtraum erwachender Riese.
In der Garderobe sagte der Jokus leise: „Nie hätte ich diesen Flug erlauben dürfen. Niemals.“
„Es war herrlich!“ rief Mäxchen. „Und ich danke dir tausendmal, daß du es mir schließlich erlaubt hast.“
Die beiden Tauben saßen oben auf dem Garderobenspiegel, hatten sich aneinandergekuschelt und gurrten.
Der Kleine Mann rieb sich die Hände. „Weißt du, worüber sie reden? Emma hat von dem Rundflug erzählt, und nun ist Minna eifersüchtig.
Weitere Kostenlose Bücher