Der Klient
vertreten. Momma Love hatte für sie Lasagne zubereitet.
»Er ist in einer Verhandlung. Sollte in ein paar Minuten fertig sein. Sie sind für zwölf Uhr angesetzt.«
»Das habe ich gehört.«
»Er hat den ganzen Vormittag versucht, Sie anzurufen.«
»Nun, er hat mich nicht erreicht. Ich warte in seinem Büro.«
»In Ordnung. Möchten Sie ein Sandwich? Ich bestelle gleich seinen Lunch.«
»Nein, danke.« Reggie nahm ihren Aktenkoffer und bat Clint, auf dem Flur zu warten und nach Mark Ausschau zu halten. Es war zwanzig vor zwölf, und er müßte bald eintreffen.
Marcia gab ihr eine Kopie der Eingabe, und Reggie betrat das Büro des Richters, als wäre es ihr eigenes. Sie machte die Tür hinter sich zu.
Harry und Irene Roosevelt hatten gleichfalls an Momma Loves Tisch gegessen. Kaum ein Anwalt verbrachte soviel Zeit am Jugendgericht wie Reggie Love, und im Laufe der letzten vier Jahre hatte sich ihr Anwalt-Richter-Verhältnis von gegenseitigem Respekt zu Freundschaft gewandelt. Ungefähr das einzige, was Reggie bei ihrer Scheidung von Joe Cardoni herausbekommen hatte, waren vier Basketball-Jahreskarten für Memphis State gewesen. Die drei – Harry, Irene und Reggie – hatten sich viele Spiele in der Pyramid angeschaut, manchmal in Gesellschaft von Elliot Levin oder einem anderen Freund von Reggie. An das Spiel schloß sich gewöhnlich ein Stück Käsekuchen im Café Espresso in The Peabody an oder, je nach Harrys Stimmung, ein spätes Abendessen bei Grisanti’s. Harry war immer hungrig, dachte ständig an die nächste Mahlzeit. Irene machte ihm andauernd Vorhaltungen wegen seines Gewichts, also aß er noch mehr. Reggie zog ihn gelegentlich damit auf, und jedesmal, wenn sie Pfunde und Kalorien erwähnte, erkundigte er sich unverzüglich nach Momma Love und ihren Pastas und Käsen und Torten.
Richter sind auch nur Menschen. Sie brauchen Freunde. Er konnte mit Reggie Love oder irgendeinem anderen Anwalt essen und ausgehen, ohne daß es der Unabhängigkeit seiner Rechtsprechung irgendeinen Abbruch tat.
Sie bewunderte wieder einmal das organisierte Chaos in seinem Büro. Auf dem Boden lag ein alter, ausgeblichener Teppich, zum größten Teil bedeckt mit säuberlichen Stapeln von Dossiers und anderen juristischen Dokumenten, alle irgendwie auf eine Höhe von dreißig Zentimetern begrenzt. Durchgesackte Bücherregale säumten zwei Wände, aber die Bücher verschwanden hinter Akten und weiteren Stapeln von Dossiers sowie Memos, die an die Bücherrücken angeheftet waren und zentimeterlang von ihnen herabhingen. Jeder freie Winkel war mit Akten ausgefüllt. Vor dem Schreibtisch standen drei alte Holzstühle. Bei dem einen lagen Akten auf dem Sitz. Bei dem zweiten lagen Akten unter dem Sitz. Der dritte war im Moment noch leer, würde aber bis zum Ende des Tages sicherlich auch zur Unterbringung von irgendetwas benutzt werden. Sie setzte sich auf diesen Stuhl und betrachtete den Schreibtisch.
Obwohl er angeblich aus Holz bestand, war davon nichts zu sehen, außer der Front und den Seitenwänden. Die Platte konnte aus Leder oder Chrom bestehen – niemand würde es je erfahren. Nicht einmal Harry hätte noch sagen können, wie die Platte seines Schreibtisches aussah. Die oberste Schicht bildeten weitere säuberliche Reihen von Marcias Stapeln, hier auf eine Höhe von zwanzig Zentimetern begrenzt. Dreißig Zentimeter für den Fußboden, zwanzig für den Schreibtisch. Darunter, in der nächsten Schicht, lag ein riesiger Kalender für 1986, den Harry einst dazu benutzt hatte, darauf herumzukritzeln, während Anwälte ihn mit ihren Argumenten langweilten. Unter dem Kalender war Niemandsland. Sogar Marcia scheute davor zurück, tiefer vorzudringen.
Sie hatte ein Dutzend Notizen auf gelben Klebezetteln an die Rückenlehne seines Stuhls geheftet. Offensichtlich waren das die dringlichsten Fälle dieses Vormittags.
Trotz des Chaos in seinem Büro war Harry Roosevelt der systematischste Richter, den Reggie in ihren vier Jahren als Anwältin kennengelernt hatte. Er hatte es nicht nötig, Zeit auf das Studium von Gesetzen zu verschwenden, weil er die meisten davon selbst geschrieben hatte. Er war berühmt für seine sparsame Ausdrucksweise, und dementsprechend waren seine Anweisungen und Dekrete für juristische Verhältnisse äußerst knapp. Er verabscheute das ausschweifende Juristenkauderwelsch, in dem Anwälte üblicherweise ihre Dossiers verfaßten, und hatte keinerlei Geduld mit Leuten, die sich gern selbst reden
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