Der Klient
gelassen.«
»Also sind Sie jetzt sein Leibwächter.«
»Nein, das bin ich nicht. Aber ich glaube nicht, daß das Gesetz Sie autorisiert, Kinder in Gewahrsam zu nehmen, die sich möglicherweise in Gefahr befinden.«
»Liebste Reggie, ich habe das Gesetz geschrieben. Ich kann jedes Kind in Gewahrsam nehmen, dem eine strafbare Handlung vorgeworfen wird.«
Richtig, er hatte das Gesetz geschrieben. Und die Berufungsgerichte hatten seit langem aufgehört, Entscheidungen von Harry Roosevelt umzustoßen.
»Und was sind, Foltrigg und Fink zufolge, seine Vergehen?«
Harry holte zwei Papiertaschentücher aus einer Schublade und putzte sich die Nase. »Er kann nicht stumm bleiben, Reggie. Wenn er etwas weiß, muß er es sagen. Das wissen Sie.«
»Sie setzen voraus, daß er etwas weiß.«
»Ich setze überhaupt nichts voraus. In der Eingabe werden bestimmte Anschuldigungen vorgebracht, und diese Anschuldigungen beruhen zum Teil auf Tatsachen und zum Teil auf Annahmen. Wie vermutlich alle Eingaben, meinen Sie nicht auch? Die Wahrheit erfahren wir erst bei der Anhörung.«
»Wieviel von Slick Moellers Geschreibsel glauben Sie?«
»Ich glaube überhaupt nichts, Reggie, bis es mir unter Eid in meinem Gerichtssaal mitgeteilt wird, und dann glaube ich ungefähr zehn Prozent davon.«
Es folgte eine lange Pause, in der der Richter überlegte, ob er die Frage stellen sollte. »Also, Reggie, was weiß der Junge?«
»Sie wissen, daß das vertraulich ist, Harry.«
Er lächelte. »Also weiß er mehr, als er wissen sollte?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Wenn es für die Untersuchung wichtig ist, muß er es sagen.«
»Und was ist, wenn er sich weigert?«
»Ich weiß es nicht. Darum kümmern wir uns, wenn es passiert. Wie gescheit ist dieser Junge?«
»Sehr gescheit. Zerbrochene Familie, kein Vater, berufstätige Mutter, auf den Straßen aufgewachsen. Das Übliche. Er geht in die fünfte Klasse, und ich habe gestern mit seiner Lehrerin gesprochen. Er hat lauter Einsen, ausgenommen in Mathematik. Er ist sehr intelligent und weiß sich nicht nur auf den Straßen zu helfen.«
»Noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?«
»Nein. Er ist ein prächtiger Junge, Harry. Wirklich bemerkenswert.«
»Die meisten Ihrer Klienten sind bemerkenswert, Reggie.«
»Der hier ist etwas Besonderes. Er ist nicht durch eigene Schuld hier.«
»Ich hoffe, er wird von seiner Anwältin bestens beraten. Die Anhörung könnte hart werden.«
»Die meisten meiner Klienten werden bestens beraten.«
Es wurde kurz an die Tür geklopft, und Marcia steckte den Kopf herein. »Ihr Klient ist da, Reggie. Zeugenraum C.«
»Danke.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Wir sehen uns in ein paar Minuten, Harry.«
»Ja. Noch etwas. Ich gehe hart vor gegen Kinder, die mir nicht gehorchen.«
»Ich weiß.«
Er saß auf einem gegen die Wand gekippten Stuhl, mit vor der Brust verschränkten Händen und einem frustrierten Ausdruck im Gesicht. Seit drei Stunden war er jetzt wie ein Strafgefangener behandelt worden und gewöhnte sich allmählich daran. Er fühlte sich sicher. Er war weder von den Bullen noch von seinen Mithäftlingen geschlagen worden.
Das Zimmer war winzig, fensterlos und schlecht beleuchtet. Reggie kam herein und zog einen Klappstuhl in seine Nähe. Sie war schon viele Male unter ähnlichen Umständen in diesem Zimmer gewesen. Er lächelte sie an, offensichtlich erleichtert.
»Wie ist’s im Gefängnis?« fragte sie.
»Ich habe noch nichts zu essen bekommen. Können wir sie verklagen?«
»Vielleicht. Wie geht es Doreen, der Frau mit den Schlüsseln?«
»Eine widerliche Person. Woher kennen Sie sie?«
»Ich bin schon sehr oft dort gewesen, Mark. Das gehört zu meinem Job. Ihr Mann ist wegen Bankraubs zu dreißig Jahren verurteilt worden.«
»Gut. Ich frage sie nach ihm, wenn ich sie wiedersehe. Muß ich dahin zurück, Reggie? Ich würde gern wissen, was hier eigentlich vor sich geht.«
»Nun, es ist sehr einfach. In ein paar Minuten findet eine Anhörung vor Richter Roosevelt statt, in seinem Gerichtssaal. Die kann ein paar Stunden dauern. Der Bundesanwalt und das FBI behaupten, daß du über wichtige Informationen verfügst, und ich denke, wir können damit rechnen, daß sie den Richter bitten werden, dich zum Reden zu zwingen.«
»Kann der Richter mich zum Reden zwingen?«
Reggie sprach sehr langsam und überlegt. Er war ein elfjähriger Junge, gescheit und lebenstüchtig, aber sie hatte schon mit vielen wie ihm zu tun gehabt
Weitere Kostenlose Bücher