Der Klient
und wußte, daß er in diesem Augenblick nicht mehr war als ein verängstigtes Kind. Vielleicht hörte er ihre Worte, vielleicht auch nicht. Vielleicht hörte er auch nur, was er hören wollte, und deshalb mußte sie behutsam vorgehen.
»Niemand kann dich zum Reden zwingen.«
»Gut.«
»Aber der Richter kann dich in denselben kleinen Raum zurückschicken, wenn du nicht redest.«
»Zurück ins Gefängnis?«
»So ist es.«
»Das verstehe ich nicht. Ich habe überhaupt nichts verbrochen, und man steckt mich ins Gefängnis. Das verstehe ich nicht.«
»Das ist ganz einfach. Falls – ich betone falls – Richter Roosevelt von dir verlangt, daß du bestimmte Fragen beantwortest, und falls du dich weigerst, dann kann er dir Mißachtung des Gerichts vorwerfen, weil du die Fragen nicht beantwortet und ihm nicht gehorcht hast. Nun, ich habe noch nie gehört, daß man einem Elfjährigen Mißachtung vorgeworfen hätte, aber wenn du ein Erwachsener wärst und dich weigern würdest, die Fragen des Richters zu beantworten, dann müßtest du wegen Mißachtung ins Gefängnis.«
»Aber ich bin nicht erwachsen.«
»Nein, aber ich glaube nicht, daß er dich freilassen wird, wenn du dich weigerst, die Fragen zu beantworten. Siehst du, Mark, das Gesetz ist in dieser Sache völlig eindeutig. Eine Person, die über Informationen verfügt, die für die Aufklärung einer Straftat wichtig sind, darf diese Informationen nicht zurückhalten, weil sie sich bedroht fühlt. Mit anderen Worten, du darfst nicht schweigen, nur weil du Angst hast, daß dir oder deiner Familie etwas passieren könnte.«
»Das ist ein blödes Gesetz.«
»Mir gefällt es auch nicht, aber das spielt im Moment keine Rolle. So lautet das Gesetz, und es gibt keine Ausnahmen, nicht einmal für Kinder.«
»Also komme ich wegen Mißachtung ins Gefängnis?«
»Das ist durchaus möglich.«
»Können wir den Richter verklagen oder sonst etwas unternehmen, damit ich wieder rauskomme?«
»Nein. Einen Richter kann man nicht verklagen. Und Richter Roosevelt ist ein sehr guter und fairer Mann.«
»Ich kann’s kaum abwarten, ihn kennenzulernen.«
»Das wirst du, in wenigen Minuten.«
Mark dachte über all das nach. Die Rückenlehne seines Stuhls schlug rhythmisch gegen die Wand. »Wie lange müßte ich im Gefängnis bleiben?«
»Vorausgesetzt natürlich, daß du dorthin zurückgeschickt wirst, wahrscheinlich so lange, bis du beschlossen hast, zu tun, was der Richter von dir verlangt. Bis du redest.«
»Und was ist, wenn ich beschließe, nicht zu reden? Wie lange muß ich dann im Gefängnis bleiben? Einen Monat? Ein Jahr? Zehn Jahre?«
»Die Frage kann ich nicht beantworten, Mark. Das weiß niemand.«
»Auch der Richter nicht?«
»Nein. Ich bezweifle, daß er eine Ahnung hat, wie lange du im Gefängnis bleiben mußt, wenn er dich wegen Mißachtung in Haft nimmt.«
Eine weitere lange Pause. Er hatte drei Stunden in Doreens kleinem Zimmer verbracht, und so schlecht war es dort nicht. Er hatte Filme gesehen über Gefängnisse, in denen Banden wüteten und miteinander kämpften und selbstgebastelte Waffen dazu benutzt wurden, Leute umzubringen, die den Mund zu weit aufgemacht hatten. Wachen folterten Insassen. Insassen fielen übereinander her. Bestes Hollywood-Kino. Aber bei Doreen war es gar nicht so schlecht.
Und die Alternative? Ohne einen Ort zu haben, den sie ihr Zuhause nennen konnte, lebte die Familie Sway jetzt in Zimmer 943 des Wohlfahrtskrankenhauses St. Peter’s. Doch der Gedanke, daß Ricky und seine Mutter dann ganz allein waren und ohne ihn auskommen mußten, war unerträglich. »Haben Sie mit meiner Mutter gesprochen?« fragte er.
»Nein, noch nicht. Ich tue es nach der Anhörung.«
»Ich mache mir Sorgen um Ricky.«
»Willst du, daß deine Mutter bei der Anhörung dabei ist? Sie müßte eigentlich hier sein.«
»Nein. Sie hat auch so schon genug am Hals. Wir beide, Sie und ich, werden schon irgendwie aus dieser Klemme rauskommen.«
Sie berührte sein Knie und hätte am liebsten geweint. Jemand klopfte an die Tür, und sie sagte laut: »Nur noch eine Minute.«
»Der Richter wartet«, kam die Antwort.
Mark holte tief Luft und betrachtete ihre Hand auf seinem Knie. »Kann ich mich nicht einfach auf den Fünften Verfassungszusatz berufen?«
»Nein. Das funktioniert nicht, Mark. Ich habe schon darüber nachgedacht. Die Fragen, die dir gestellt werden, haben nicht den Zweck, dich zu belasten. Sie haben nur den Zweck, an Informationen zu kommen,
Weitere Kostenlose Bücher