Der Klient
Wohlfahrtsbehörde hat schon wieder zugeschlagen«, sagte sie leise. Niemand hörte zu, niemanden kümmerte es.
»Wer ist das Kind?« fragte er, während er in der Akte blätterte.
»Ronald Allan Thomas der Dritte. Auch Trip Thomas genannt. Er wurde gestern abend von der Wohlfahrtsbehörde abgeholt und zu Pflegeeltern gebracht. Seine Mutter hat mich vor einer Stunde um Vertretung gebeten.«
»Hier steht, er wäre alleingelassen und vernachlässigt worden.«
»Stimmt nicht, Harry. Es ist eine lange Geschichte, aber ich versichere Ihnen, der Junge hat gute Eltern und ein ordentliches Zuhause.«
»Und Sie wollen, daß er freigelassen wird.«
»Auf der Stelle. Ich hole ihn selbst ab und nehme ihn notfalls mit zu Momma Love.«
»Und sie füttert ihn mit Lasagne.«
»Natürlich.«
Harry überflog den Beschluß und unterschrieb ihn. »Ich muß mich auf Sie verlassen, Reggie.«
»Das tun Sie immer. Ich habe Damon und Al da hinten gesehen. Sie scheinen sich zu langweilen.«
Harry reichte den Beschluß an die Kanzlistin weiter, die ihn abstempelte. »Das tue ich auch. Sobald ich dieses Gesindel los bin, fahren wir zum Angeln.«
»Viel Spaß. Wir sehen uns am Montag.«
»Schönes Wochenende, Reggie. Sie kümmern sich doch um Mark, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Versuchen Sie, seiner Mutter gut zuzureden. Je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, daß diese Leute mit dem FBI zusammenarbeiten und das Zeugenschutzprogramm akzeptieren sollten. Schließlich haben sie nichts zu verlieren bei einem Neuanfang. Versuchen Sie ihr klarzumachen, daß sie beschützt werden.«
»Das werde ich tun. Ich habe vor, übers Wochenende einige Zeit mit ihr zu verbringen. Vielleicht können wir die Sache am Montag abschließen.«
»Wir sehen uns dann.«
Reggie nickte und ließ sich von der Kanzlistin eine Kopie des Beschlusses aushändigen. Dann verließ sie den Saal.
31
T homas Fink, gerade von einem weiteren aufregenden Flug aus Memphis zurückgekehrt, betrat am Freitagnachmittag um halb fünf Foltriggs Büro. Wally Boxx saß wie ein getreuer Wachhund auf der Couch und schrieb etwas. Fink vermutete, daß es sich entweder um eine weitere Rede für ihren Boss handelte oder um Presseverlautbarungen, die anstehende Fälle betrafen. Roys Füße lagen auf seinem Schreibtisch, und er hatte den Telefonhörer am Ohr. Er hörte mit geschlossenen Augen zu. Der Tag war eine Katastrophe gewesen. Lamond hatte ihn in einem überfüllten Gerichtssaal bloßgestellt. Roosevelt hatte es nicht geschafft, den Jungen zum Reden zu bringen. Die Richter hingen ihm zum Hals heraus.
Fink zog sein Jackett aus und setzte sich. Foltrigg beendete sein Telefongespräch und legte auf. »Wo sind die Vorladungen vor die Anklagejury?« fragte er.
»Ich habe sie persönlich dem US-Marshal in Memphis übergeben, mit der strikten Anweisung, sie erst zuzustellen, wenn er von Ihnen gehört hat.«
Boxx verließ die Couch und setzte sich neben Fink. Es war undenkbar, daß er an einer Unterhaltung nicht teilnahm.
Roy rieb sich die Augen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Frustrierend, überaus frustrierend. »Also, was wird der Junge tun, Thomas? Sie waren dort. Sie haben seine Mutter gesehen. Sie haben ihre Stimme gehört. Wie geht es weiter?«
»Ich weiß es nicht. Der Junge hat ganz offensichtlich nicht die Absicht, in nächster Zeit den Mund aufzumachen. Sowohl er als auch seine Mutter sind verängstigt. Sie haben offenbar zu viele Filme gesehen, in denen Mafia-Informanten in die Luft gesprengt wurden. Sie ist überzeugt, daß das Zeugenschutzprogramm ihnen keine Sicherheit bietet. Sie ist wirklich verrückt vor Angst. Diese Woche war für sie die Hölle.«
»Wirklich rührend«, murmelte Boxx.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als die Vorladungen zu benutzen«, sagte Foltrigg ernst; er tat so, als wäre ihm das zutiefst zuwider. »Wir haben keine andere Wahl. Wir waren fair und vernünftig. Wir haben das Jugendgericht in Memphis gebeten, uns bei dem Jungen weiterzuhelfen, und es hat einfach nicht funktioniert. Es wird Zeit, daß wir diese Leute hierherbeordern, in unser Revier, vor unser Gericht, vor unsere Leute, und sie zum Reden zwingen. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, Thomas?«
Fink war nicht ganz dieser Ansicht. »Die Jurisdiktion macht mir zu schaffen. Der Junge steht unter der Jurisdiktion des Jugendgerichts in Memphis, und ich bin nicht sicher, was passiert, wenn ihm die Vorladung zugestellt wird.«
Roy lächelte.
Weitere Kostenlose Bücher