Der Knochenjäger
gedacht hätte, hätte ich Sie aufgefordert, seine Nägel auszukratzen. Selbst wenn das Opfer unter Wasser war, halten sich dort -«
»Bitte sehr«, sagte sie und hielt zwei Plastiktüten hoch.
»Sie haben seine Fingernägel ausgekratzt?«
Sie nickte.
»Aber warum haben Sie zwei Tüten genommen?«
Sie hielt erst eine, dann die andere Tüte hoch und sagte: »Linke Hand, rechte Hand.«
Mel Cooper lachte laut auf. »Nicht mal du bist draufgekommen, die Auskratzspuren in getrennten Tüten sicherzustellen, Lincoln. Eine großartige Idee.«
Rhyme schniefte. »Zwischen linker und rechter Hand zu differenzieren könnte kriminalistisch von gewisser Bedeutung sein.«
»Hoho«, sagte Cooper immer noch lachend. »Das heißt, daß er's für eine glänzende Idee hält und nur bedauert, daß er nicht selber draufgekommen ist.«
Der Kriminaltechniker untersuchte den Fingernagelschmutz. »Ich habe hier Ziegelstaub.«
»Da waren aber nirgendwo Ziegel, weder beim Abflußrohr noch in der Umgebung«, sagte Sachs.
»Es sind nur Partikel. Aber irgend etwas haftet daran. Kann aber nicht feststellen, was es ist.«
»Könnten sie eventuell aus dem Tunnel bei den alten Viehhöfen stammen?« fragte Banks. »Dort waren doch jede Menge Ziegel, nicht?«
»Der Staub, den wir dort gefunden haben, wurde von unserer Kunstschützin hier aufgewirbelt«, sagte Rhyme und deutete vorwurfsvoll mit dem Kopf auf Sachs. »Nein. Erinnert euch, der Unbekannte hatte den Tatort verlassen, bevor sie die Waffe gezogen hat.« Dann runzelte er die Stirn und blickte angestrengt nach vorn. »Mel, ich möchte mir den Ziegelstaub ansehen. Unter dem Mikroskop. Ist das machbar?«
Cooper warf einen Blick auf Rhymes Computer. »Ich glaube, wir können irgendwas zurechtbasteln.« Er zog ein Kabel von der Video-Ausgangsbuchse an seinem Stereomikroskop zu seinem Computer und wühlte dann in einem großen Koffer herum. Er holte ein langes, dickes graues Kabel heraus. »Das ist ein serielles Kabel.« Er verband die beiden Computer und kopierte die nötige Software auf Rhymes Compaq. Fünf Minuten später tauchte am Monitor das gleiche Bild auf, das Cooper durch das Okular des Mikroskops sah.
Der Kriminalist betrachtete den stark vergrößerten Ziegelsplitter. Er lachte laut auf. »Er hat sich selbst ausgetrickst. Seht ihr die weißen Klümpchen, die an dem Ziegel haften?«
»Was ist das?« fragte Sellitto.
»Sieht aus wie Leim«, meinte Cooper.
»Genau. Von einer Fusselrolle. Ganz vorsichtige Täter benutzen sie, um sämtliche Spuren von ihrer Kleidung zu entfernen. Aber diesmal ging es nach hinten los. Ein paar Klebstoffpartikel müssen sich von der Rolle gelöst haben und an seiner Kleidung hängengeblieben sein. Dadurch blieb auch der Ziegelstaub haften, bis er unter Everetts Fingernägel geriet. Wir wissen also, daß er aus seinem Unterschlupf stammt.«
»Verrät uns der Ziegelsplitter irgend etwas?« fragte Sachs.
»Er stammt von einem alten Ziegel. Und von einem teuren - billige Ziegel sind viel poröser, weil mehr Magerungsmasse beigemengt wird. Ich nehme an, es handelt sich entweder um ein öffentliches Gebäude oder um ein Haus, das von jemandem errichtet wurde, der reich war. Mindestens hundert Jahre alt. Vielleicht älter.«
»Ah, da ist noch was«, sagte Cooper. »Ein weiteres Stück vom Handschuh, wie's aussieht. Wenn sich die verdammten Dinger weiter so auflösen, stoßen wir über kurz oder lang auf die ersten Papillarleisten.«
Rhymes Monitor leuchtete auf, und im nächsten Moment konnte er den winzigen Lederpartikel am Bildschirm erkennen. »Irgendwas ist daran komisch«, sagte Cooper.
»Er ist nicht rot«, stellte Rhyme fest. »So wie die anderen Partikel. Dieses Stückchen hier ist schwarz. Untersuch ihn im Mikrospektralfotometer.«
Cooper führte die Analyse durch und tippte dann an den Bildschirm seines Computers. »Es ist Leder. Aber eine andere Farbe. Möglicherweise verunreinigt.«
Rhyme beugte sich so weit wie möglich vor und wollte sich gerade den Partikel auf dem Monitor anschauen, als ihm plötzlich klar wurde, daß ihm nicht gut war. Ganz und gar nicht gut.
»He, ist alles in Ordnung?« sprach Sachs ihn an.
Rhyme antwortete nicht. Sein Hals und sein Unterkiefer begannen heftig zu zittern. Ein seltsames Gefühl, eine Art Panik, befiel ihn oberhalb der zerschmetterten Wirbelsäule und breitete sich in seinem Kopf aus. Dann, als hätte sich ein Thermostat eingeschaltet, verschwanden die eisige Kälte und die Gänsehaut, und er
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