Der Knochenjäger
Falken?«
»Wanderfalken. Normalerweise nisten sie hoher. Ich weiß nicht, warum sie sich bei mir häuslich niedergelassen haben.«
Berger warf einen Blick auf die Vögel, wandte sich dann vom Fenster ab und ließ den Vorhang wieder zufallen. Die Vogel interessierten ihn nicht. Er war nicht besonders groß, wirkte aber ziemlich fit - ein Läufer, vermutete Rhyme. Er mochte etwa Ende Vierzig sein, hatte aber volles, schwarzes Haar ohne eine einzige graue Strähne, und vom Aussehen her konnte er mit jedem Nachrichtenmoderator mithalten.
»Das ist ja ein tolles Bett.«
»Gefällt es Ihnen?«
Das Bett war ein Clinitron, ein riesiger rechteckiger Klotz. Es war ein luftgelagertes Stützbett, das fast eine Tonne silikonbeschichteter Glaskugeln enthielt. Die Druckluft strömte zwischen den Kugeln hindurch, die Rhymes Körper Halt gaben. Wenn er etwas hätte spüren können, hätte es sich angefühlt, als triebe er im Wasser.
Berger trank einen Schluck Kaffee, den Thom auf Rhymes Geheiß hin geholt hatte, wobei er die Augen verdreht und geflüstert hatte: »Na, wir sind ja auf einmal gesellig!«, ehe er sich zurückzog.
»Sie waren Polizist ?« fragte der Arzt Rhyme. »Jedenfalls haben Sie mir das mitgeteilt.«
«Ja. Leiter des Kriminaldezernats bei der New Yorker Polizei.«
«Haben Sie eine Schußverletzung erlitten?«
»Nee. Ich habe einen Tatort untersucht. Ein paar Arbeiter haben auf einer U-Bahnbaustelle eine Leiche gefunden. Es war ein junger Streifenpolizist, der sechs Monate zuvor verschwunden war - wir hatten es damals mit einem Serienmörder zu tun, der Polizisten erschoß. Man bat mich, den Fall persönlich zu bearbeiten, und als ich mich vor Ort umsah, brach ein Stützbalken zusammen. Ich war etwa vier Stunden lang verschüttet.«
»Jemand hatte es tatsächlich auf Polizisten abgesehen?«
»Hat drei getötet und einen vierten verletzt. Der Täter war selbst Polizist. Dan Shepherd. Ein Sergeant im Streifendienst.«
Berger warf einen Blick auf die rosa Narbe an Rhymes Hals. Das eindeutige Kennzeichen einer Tetraplegie, einer Lähmung aller vier Gliedmaßen - der Einschnitt, durch den der Schlauch zur künstlichen Beatmung eingeführt wird, der nach dem Unfall monatelang in der Kehle verbleibt. Manchmal jahrelang, mitunter für immer. Doch dank seiner Roßnatur und des gigantischen Einsatzes seiner Therapeuten konnte Rhyme von der künstlichen Beatmung entwöhnt werden. Seine Lunge war jetzt so gut, daß er überzeugt davon war, es fünf Minuten unter Wasser aushalten zu können.
»Eine Halswirbelverletzung also.«
»C4.«
»Ah ja.«
C4 ist der kritische Bereich bei einer Rückenmarkverletzung. Eine Schädigung des Rückenmarks oberhalb des vierten Halswirbels hätte ihn durchaus das Leben kosten können. Wäre das Rückgrat unterhalb des vierten Halswirbels in Mitleidenschaft gezogen worden, hätte er Arme und Hände irgendwann zumindest wieder teilweise gebrauchen können, wenn auch nicht die Beine. Bei einer Verletzung des berüchtigten vierten Halswirbels blieb er zwar am Leben, war aber völlig gelähmt. Er konnte weder Arme noch Beine gebrauchen. Bauch- und Interkostalmuskulatur waren so gut wie nicht mehr vorhanden, so daß er hauptsächlich mittels des Zwerchfells atmete. Kopf und Hals konnte er bewegen, die Schultern ein bißchen. Und er hatte auch noch Glück, denn der herabstürzende Balken hatte einen einzigen, winzigen Nervenstrang verschont. Wodurch er den Ringfinger der linken Hand bewegen konnte.
Rhyme ersparte dem Arzt die Schauergeschichten, die er im ersten Jahr nach dem Unfall durchgemacht hatte. Die monatelange Schädeltraktion - dabei bohrt man Löcher in den Kopf, bringt Zangen an und strafft damit das Rückgrat. Dazu die zwölf Wochen im Heiligenschein - eine Plastikstütze am Kinn und ein Stahlgestell um den Kopf, damit man den Nacken nicht bewegt. Ein Jahr lang das große künstliche Beatmungsgerät, damit seine Lunge nicht versagte, danach die Stimulation der Zwerchfellnerven. Die Katheter. Die Operationen. Die Darmverschlüsse aufgrund der Lähmung, die streßbedingten Magengeschwüre, die Hypotension und die Bradykardie, wenn der Blutdruck wegsackte und der Herzschlag langsamer wurde, dazu die Geschwüre, die sich an den wundgelegenen Stellen bildeten, die Krämpfe, als das Muskelgewebe schrumpfte, die Angst, der kostbare linke Finger könne dadurch unbeweglich werden, die wahnwitzigen Phantomschmerzen - ein Brennen und Ziehen in den Gliedmaßen, in denen er keinerlei
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