Der Knochenjäger
über Gesicht, Brust und Arme lief, während sie die Verbindungsglieder der Handschellen mühsam über die rostige Schraube zog, immer hin und her, wie eine Säge. Sie hatte kein Gefühl mehr in den Handgelenken, aber es kam ihr so vor, als wäre die Kette stellenweise schon etwas dünner geworden.
Erschöpft hielt sie inne und drehte die Arme hin und her, damit sie keinen Krampf bekam. Wieder horchte sie. Die Geräusche stammen von Arbeitern, dachte sie, die Schrauben anziehen und Teile zusammenklopfen. Letzte Hammerschläge. Sie stellte sich vor, daß sie gerade mit der Arbeit an dem Rohr fertig wurden und sich auf den Nachhauseweg begeben wollten.
Geht nicht, schrie sie tonlos. Laßt mich nicht allein. Solange die Männer hier waren, war sie in Sicherheit.
Ein letzter Schlag, danach Totenstille.
Mach, daß du da wegkommst, Mädchen. Na los.
Mama...
T. J. weinte ein paar Minuten lang, als sie an ihre Familie daheim in Ost-Tennessee dachte. Ihre Nase war verstopft, aber als sie um Atem rang, mußte sie heftig niesen. Daraufhin bekam sie wieder Luft. Es gab ihr neue Zuversicht. Kraft. Sie sägte weiter.
»Ich verstehe durchaus, daß es eilt, Detective. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Wir verwenden die Schrauben in der ganzen Stadt. Für Ölleitungen, Gasleitungen ...«
»Na schön«, sagte Rhyme unwirsch und stellte der Führungskraft, die in der Firmenzentrale von Consolidated Edison an der vierzehnten Straße saß, die nächste Frage. »Isolieren Sie Ihre Leitungen mit Asbest?«
Kurzes Zögern.
»Den haben wir zu neunzig Prozent entfernt«, entgegnete die Frau. »Zu fünfundneunzig Prozent.«
Manche Menschen konnten einen dermaßen auf die Palme bringen. »Das ist mir klar. Ich muß lediglich wissen, ob immer noch Asbest zum Isolieren verwendet wird.
»Nein«, sagte sie beharrlich. »Nun ja, nicht bei Stromleitungen.
Nur bei Dampf, und der macht prozentual den geringsten Anteil unserer Versorgung aus.«
Dampfleitungen!
Die am wenigsten bekannten, zugleich aber gefährlichsten Versorgungsleitungen der Stadt. Consolidated Edison heizte Wasser auf über fünfhundert Grad auf und speiste es in ein unter Manhattan verlaufendes Rohrsystem ein. Der Dampf war überhitzt - auf etwa zweihundert Grad - und schoß mit einer Geschwindigkeit von rund hundertzwanzig Stundenkilometern quer durch die Stadt.
Rhyme erinnerte sich wieder an einen Zeitungsartikel. »Hatten Sie letzte Woche nicht einen Rohrbruch?«
»Ja, Sir. Aber bei dem Leck ging es nicht um Asbest. Die entsprechende Stelle wurde schon vor Jahren saniert.«
»Aber einige Ihrer Rohre in Downtown sind mit Asbest ummantelt?«
Sie zögerte. »Nun ja ...«
»Wo war dieser Rohrbruch?« hakte Rhyme rasch nach.
»Am Broadway. Eine Querstraße nördlich von der Chambers.«
»Stand darüber nicht ein Artikel in der Times?«
»Ich weiß es nicht. Kann sein. Ja.«
»Und war in diesem Artikel nicht von Asbest die Rede?«
»So ist es«, räumte sie ein. »Aber es hieß nur, daß die Asbestverseuchung früher ein großes Problem gewesen sei.«
»Das Rohr, das gebrochen ist, hat das ... kreuzt das weiter südlich die Pearl Street?«
»Nun ja, mal sehen. Ja, so ist es. An der Hanover Street. Auf der Nordseite.«
Er stellte sich T. J. Colfax vor, die Frau mit den schlanken Fingern und den langen Nägeln, die jeden Moment sterben konnte.
»Und der Dampf wird um fünfzehn Uhr wieder eingeleitet?»
»Das stimmt. Müßte jeden Moment soweit sein.«
»Das geht nicht!« schrie Rhyme. »Jemand hat sich an den Rohren zu schaffen gemacht. Sie dürfen keinen Dampf einleiten!«
Beunruhigt blickte Cooper von seinem Mikroskop auf.
»Nun ja, ich weiß nicht...«, sagte die Frau.
»Ruf Lon an«, rief er Thom zu. »Sag ihm, sie ist in einem Keller an der Hanover, Ecke Pearl Street. Auf der Nordseite.« Er klärte ihn über den Dampf auf. »Schick außerdem die Feuerwehr hin. Mit Schutzkleidung gegen Hitze.«
»Setzen Sie sich mit dem Reparaturtrupp in Verbindung!« schrie er in sein Telefon. »Sofort! Sie dürfen keinen Dampf einleiten! Auf keinen Fall!« Geistesabwesend wiederholte er die Worte, verabscheute seine lebhafte Phantasie, denn er hatte eine Filmschleife vor Augen, die ihm immer wieder zeigte, wie sich die Haut der Frau in der ausströmenden Wolke aus kochendheißem Dampf verfärbte.
Das Funkgerät im Kombi knisterte und knackte. Auf Sachs' Uhr war es drei Minuten nach drei. Sie meldete sich.
»Streife 5885, ko -«
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