Der Knochenjäger
nicht geglaubt, Detective. Aber ich habe wirklich keine Ahnung von Tatortarbeit.«
Sie blickte zu der furchtbar zugerichteten Frau. Ihr Gesicht war zu einem entsetzlichen Grinsen verzerrt. Genau wie bei dem Opfer von heute morgen.
»Ich habe Ihnen geglaubt, Amelia«, sagte er brüsk. »Also, ist der Koffer offen?« Er war ruhig und klang ... wie? Ja, das war es. Verführerisch. Er klang wie ein Liebhaber.
Ich hasse ihn, dachte sie. Man soll einen Krüppel nicht hassen. Aber verflucht noch mal, ich hasse ihn.
»Sie sind im Keller, stimmt's?«
»Ja, Sir.«
»Hören Sie, Sie müssen mich Lincoln nennen. Wir werden einander sehr gut kennenlernen, bis das hier vorbei ist.«
Was in etwa sechzig Minuten der Fall sein wird. Höchstens.
»In dem Koffer müßten sich ein paar Gummiringe befinden, wenn ich mich nicht irre.«
»Ich sehe sie.«
»Ziehen Sie sie über Ihre Schuhe. Etwa in Höhe des Fußballens. Falls es Unklarheiten wegen der Fußspuren gibt, wissen Sie, welche von Ihnen stammen.«
»Okay, schon geschehen.«
»Nehmen Sie ein paar Tüten und Kuverts für etwaige Beweismittel mit. Stecken Sie sich jeweils etwa zwei Handvoll in Ihre Hosentaschen. Können Sie mit Eßstäbchen umgehen?«
»Wie bitte?«
»Sie leben doch in der Stadt, stimmt's? Gehen Sie nicht manchmal in die Mott Street, um bei General Tsao Hühnchen zu essen? Oder kalte Nudeln mit Sesampaste?«
Als er von Essen redete, kam ihr die Galle hoch. Sie vermied jeden Blick auf die gefesselte Frau.
»Ich kann mit Eßstäbchen umgehen«, sagte sie eisig.
»Schauen Sie in den Koffer. Ich bin nicht sicher, ob Sie welche finden. Als ich noch für Tatortarbeit zuständig war, waren immer welche drin.«
»Ich sehe keine.«
»Nun ja, aber Sie finden sicher ein paar Stifte. Stecken Sie sie ein. Nun kommen wir zur Tatortbesichtigung. Schreiten Sie jeden Zentimeter ab. Sind Sie bereit?« »Ja«
»Sagen Sie mir zuerst, was Sie sehen.«
»Einen großen Raum. Etwa sechs Meter breit und zehn Meter lang. Lauter rostige Rohre. Rissiger Betonboden. Ziegelmauern. Schimmel.«
»Irgendwelche Kartons? Steht irgend etwas auf dem Boden?«
»Nein, er ist leer. Bis auf die Rohre, die Öltanks und den Brenner. Dort ist der Sand - die zermahlenen Muschelschalen. Sie rieseln aus einem Riß in der Wand. Und außerdem ist da irgendwelches graues Zeug -«
»Zeug?« versetzte er. »Dieses Wort kenne ich nicht. Was heißt >Zeug«
Mit einemmal packte sie der helle Zorn. Sie zwang sich zur Ruhe und sagte: »Es ist Asbest, aber nicht so zusammengeknüllt wie heute morgen. Eher eine Art bröslige Matte.«
»Gut. Nun zur ersten Spurensuche. Sehen Sie zu, ob er Fußspuren und fingierte Hinweise hinterlassen hat.«
»Meinen Sie, er hat noch mal was hinterlassen?«
»Oh, jede Wette«, sagte Rhyme. »Setzen Sie die Spezialbrille auf und benutzen Sie das Polilight. Halten Sie es niedrig. Suchen Sie den Raum ab. Jeden Zentimeter. Fangen Sie an. Sie wissen doch, wie man einen Tatort absucht?«
»Ja, Sir.«
»Wie?«
Sie sträubte sich. »Sie brauchen mich wirklich nicht auf die Probe zu stellen.«
»Ach, tun Sie mir den Gefallen. Wie?«
»Man geht in einer Richtung hin und zurück, dann wiederholt man das Ganze in lotrechter Richtung. Wie ein Schachbrettmuster.«
»Schritt für Schritt. Kein Schritt größer als eine Fußlänge.«
Das hatte sie nicht gewußt. »Ich weiß«, sagte sie.
»Fangen Sie an.«
Das Polilight warf einen unheimlichen, überirdisch wirkenden Lichtschein. Sie wußte, daß man so etwas als ALQ bezeichnete — als alternative Lichtquelle -, und daß damit Finger- und Fußabdrücke sowie Samen- und Blutspuren zum Fluoreszieren gebracht wurden. Allerlei Schatten tanzten im Schein des grünlich flimmernden Lichts, und ein paarmal hätte sie beinahe die Waffe gezogen und auf einen dunklen Schatten abgedrückt, der sich dann lediglich als Ausgeburt ihrer Phantasie entpuppte.
»Amelia?« Rhymes Stimme klang scharf und durchdringend. Wieder fuhr sie zusammen.
»Ja? Was ist?«
»Sehen Sie irgendwelche Fußspuren?«
Sie wandte sich wieder dem Boden zu. »Ich, äh, nein. Aber ich sehe irgendwelche Streifen im Staub. Oder irgendwas.« Sie wand sich insgeheim, kaum daß sie das schwammige Wort ausgesprochen hatte. Doch ganz im Gegensatz zu Peretti heute morgen ging Rhyme nicht darauf ein. »Soso«, sagte er. »Dann hat er also hinterher gefegt.«
Sie staunte. »Genau, das ist es! Besenspuren. Woher haben Sie das gewußt?«
Rhyme lachte - ein schaurig
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