Der Knochenjäger
jeden Haares bilden.
Cooper tippte ein paar Befehle in seinen Computer ein, und kurz darauf erschienen daumennagelgroße Abbildungen diverser stark vergrößerter Haare samt deutlich sichtbarer Abschilferung am Bildschirm. »Das haben wir dir zu verdanken, Lincoln. Kannst du dich noch an die Datei erinnern?«
Bei der IRD hatte Rhyme eine riesige Sammlung von Mikrofotos verschiedenster Haartypen angelegt. »Ja, na klar, Mel. Aber das waren drei Ringbuchordner, als ich sie das letztemal gesehen habe. Wie hast du die in den Computer gekriegt?«
»Per ScanMaster natürlich. JPEG-komprimiert.«
JP-was? Was war das? Nur ein paar Jahre raus, und schon war er technisch nicht mehr auf dem laufenden. Erstaunlich ...
Und während Cooper die Bilder verglich, stellte sich Lincoln Rhyme einmal mehr die Frage, die ihn schon den ganzen Tag beschäftigte - die Frage, die ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte: Warum die Hinweise? Der Mensch ist ein seltsames Wesen, aber er ist vor allem und in erster Linie eine Kreatur. Ein Tier, das lachen kann, gefährlich ist und schlau, Angst hat, aber immer aus einem Grund handelt - ein Bedürfnis hat, das es zu seiner Verhaltensweise bewegt. Als Wissenschaftler glaubte Lincoln Rhyme nicht, daß es so etwas wie Zufälle, merkwürdige Begebenheiten oder schieres Glück gab. Selbst Psychopathen hatten ihre ureigene Logik, so verquer die auch sein mochte, und deshalb wußte er genau, daß es einen Grund dafür geben mußte, weshalb der Unbekannte in Rätseln zu ihnen sprach.
»Ich hab's«, rief Cooper. »Ein Nagetier. Wahrscheinlich eine Ratte. Die Haare wurden abrasiert.«
»Das ist ja ein toller Hinweis«, sagte Banks. »Es gibt Millionen Ratten in der Stadt. Das führt uns zu keinem bestimmten Ort. Was will er uns damit sagen?«
Sellitto schloß einen Moment lang die Augen und murmelte etwas vor sich hin. Sachs bemerkte seine Miene nicht, denn sie schaute neugierig auf Rhyme. Der war überrascht, daß sie noch nicht darauf gekommen war, was der Kidnapper ihnen mitteilen wollte, sagte aber nichts. Er sah nicht ein, weshalb er diese schreckliche Erkenntnis mit jemandem teilen sollte, jedenfalls vorerst noch nicht.
James Schneiders siebentes Opfer beziehungsweise das achte, so man die arme, kleine Maggie O ’Connor hinzuzählen mag, war die Ehefrau eines fleißigen Immigranten, der an der Hester Street in der Lower East Side der Stadt ein bescheidenes Heim für seine Familie geschaffen hatte.
Dem Mut seines unglücklichen Eheweibes war es zu verdanken, daß die Konstabler den Verbrecher schließlich entlarven konnten. Hanna Goldschmidt, eine Jüdin deutscher Abstammung, war ein hochgeschätztes Mitglied der Gemeinde, in der sie mit ihrem Ehemann und sechs Kindern (eines war bei der Geburt gestorben) lebte.
Langsam fuhr der Knochensammler durch die Straßen, darauf bedacht, die zulässige Geschwindigkeit nicht zu überschreiten, obwohl er wußte, daß einen die New Yorker Verkehrspolizei wegen so einer Kleinigkeit nicht anhielt.
Er blieb an einer roten Ampel stehen und betrachtete ein weiteres UNO-Plakat. Er sah die hohlen, lächelnden Fratzen - genau wie die unheimlichen Gesichter in seinem Haus - und ließ dann den Blick weiterschweifen auf die ihn umgebende Stadt. Von Zeit zu Zeit war er immer noch überrascht, wenn er wieder einmal feststellte, wie massig die Häuser wirkten, wie hoch das Mauerwerk aufragte, wie glatt das Glas war, wie schnittig die Autos, die vorüberfuhren, und wie herausgeputzt die Menschen wirkten. Die Stadt, die er kannte, war dunkel, geduckt, verqualmt, sie roch nach Schweiß und Schmutz. Man wurde von Pferden niedergetrampelt, es wimmelte von Gaunerbanden - zehn- oder elfjährige Kinder zum Teil -, die einem kurzerhand einen Knüppel oder Stock über den Kopf zogen und sich mit der Taschenuhr oder der Geldbörse davonmachten ... Das war die Stadt, in der der Knochensammler lebte.
Manchmal allerdings ging es ihm so wie jetzt - er fuhr in einem flotten silbernen Taurus XL über glatte Asphaltstraßen dahin, hörte einen Lokalsender, ärgerte sich wie alle New Yorker, wenn er eine grüne Ampel nicht mehr rechtzeitig erwischte, und fragte sich, warum, zum Teufel, man in dieser Stadt bei Rot nicht rechts abbiegen durfte, wenn es überall sonst erlaubt war.
Er spitzte die Ohren, als er dumpfe Schläge aus dem Kofferraum hörte. Aber hier waren zu viele Außengeräusche, als daß jemand Hannas Aufbegehren hätte hören können.
Die Ampel sprang um.
Auch in unserer
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