Der Knochenjäger
aufgeklärten Zeit ist es natürlich ungewöhnlich, daß sich eine Frau des Abends so weit von zu Hause wegbegibt, Zumal ohne männliche Begleitung. Und seinerzeit war dies noch weitaus ungewöhnlicher. Doch an diesem unseligen Abend blieb Hanna keine andere Wahl - sie mußte ihr Heim verlassen. Ihr Jüngstes hatte Fieber, und da ihr Gatte in der nahegelegenen Synagoge zum Gebet weilte, begab sie sich hinaus, um zu dunkler Nachtstunde Arznei zu besorgen, die sie ihrem fiebernden Kinde einflößen wollte. Als sie die Tür schloß, sagte sie zu ihrer ältesten Tochter:
»Schließ die Türe hinter mir gut zu. Ich kehre gleich zurück.«
Leider sollte es anders kommen. Denn nur wenig später begegnete sie James Schneider.
Der Knochensammler betrachtete die verwahrlosten Straßen. Diese Gegend - ganz in der Nähe hatte er das erste Opfer vergraben - hieß Hell's Kitchen und lag an der West Side von Manhattan. Hier, wo einst die irischen Banden geherrscht hatten, ließen sich jetzt immer mehr erfolgreiche junge Menschen nieder - Werbeagenturen, Fotoateliers und schicke Restaurants.
Es roch nach Mist, und er wunderte sich überhaupt nicht, als er plötzlich ein scheuendes Pferd vor sich sah.
Dann wurde ihm klar, daß es sich nicht um eine Erscheinung aus dem 19. Jahrhundert handelte. Das Pferd sollte vor eine der Droschken gespannt werden, in denen man sich zu durchaus neuzeitlichen Preisen durch den Central Park kutschieren lassen konnte. Die Stallungen waren ganz in der Nähe.
Er lachte leise in sich hinein.
Was danach geschah, läßt sich nur vermuten, denn es gibt keinerlei Zeugen. Doch nur allzu deutlich können wir uns das entsetzliche Geschehen ausmalen. Der Schurke zerrte die verzweifelt Widerstand leistende Frau in eine dunkle Gasse und stach mit dem Dolch auf sie ein - nicht etwa, weil er sie töten wollte, sondern um sie sich gefügig zu machen. Doch Mrs. Goldschmidts Willenskraft, die sicherlich gestärkt wurde vom Gedanken an ihre Sprößlinge zu Hause, war derart, daß sie sich unverhofft und mit aller Entschiedenheit gegen den Unhold zur Wehr setzte - sie schlug ihm wiederholt ins Gesicht und riß ihm Haare aus.
Sie konnte sich kurzzeitig losreißen und einen entsetzlichen Schrei ausstoßen. Schneider schlug noch mehrere Male auf sie ein und ergriff dann feige die Flucht.
Die tapfere Frau torkelte auf den Bürgersteig, wo sie zusammenbrach und in den Armen eines Konstablers starb, der auf die Hilfeschreie der Nachbarn hin angerannt kam.
Die Geschichte stand in einem Buch, das der Knochensammler bei sich hatte. Berühmte Kriminalfälle im alten New York. Er wußte nicht, was ihn an diesem schmalen Bändchen so reizte. Er war süchtig danach - mehr könnte er beim besten Willen nicht sagen, wenn er erklären müßte, was dieses Buch für ihn bedeutete. Fünfundsiebzig Jahre alt und nach wie vor in hervorragendem Zustand, ein Wunderwerk der Buchbindekunst. Es war sein Glücksbringer, sein Talisman. Er hatte es in einer kleinen Filiale der Stadtbücherei entdeckt und eines Tages in seinen Regenmantel gesteckt und mitgenommen - einer der wenigen Diebstähle, die er in seinem Leben begangen hatte.
Er hatte die Geschichte über Schneider schon hundertmal gelesen, er kannte sie auswendig.
Langsam fahren. Sie waren gleich da.
Als Hannas Gatte sich klagend über den leblosen Leib seines Weibes beugte und ihr ins Antlitz sah - ein letztes Mal, ehe sie zur ewigen Ruhe gebettet wurde, da der jüdische Glaube vorschreibt, daß Tote so schnell wie möglich bestattet werden müssen -, bemerkte er eine eigenartige, an ein Wappen gemahnende Schramme auf ihrer ebenmäßigen Wange. Es war ein rundes Zeichen, das wie eine Mondsichel wirkte, über welcher ein kleiner Sternenhaufen schwebte.
Der Konstabler rief aus, daß es sich um einen Abdruck handeln müsse, den der ruchlose Schlächter höchstselbst mit seinem Ring hinterlassen habe, als er auf sein armes Opfer einschlug. Die Kriminalisten zogen daraufhin einen Künstler zu Rate, der eine Zeichnung des Abdruckes anfertigte. (Der geschätzte Leser wird in diesem Zusammenhang auf Tafel XXII verwiesen.) Daraufhin befragte man die Juweliere der Stadt und erfuhr mehrere Namen und Anschriften von Männern, die in jüngster Zeit derartige Ringe erworben hatten. Zwei der Käufer, der eine ein Pastor, der andere Professor an einer ehrenwerten Universität, waren über jeden Verdacht erhaben. Der dritte indes war ein Mann, den die Konstabler bereits seit längerer Zeit
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