Der Knochenjäger
Knochen. Sie stieß einen Schrei aus, ein wahnwitziges Heulen, das selbst durch das Klebeband drang, und trat um sich, doch er hielt sie fest. Gefällt dir das, Hanna? Das Mädchen schluchzte und stöhnte laut auf.
Dann nahm er ihren Arm.
Sie schauten sich einen Moment lang in die Augen, und sie schüttelte verzweifelt den Kopf, flehte ihn stumm an. Sein Blick fiel auf ihren runden Unterarm, und wieder schnitt er tief ins Fleisch. Ihr ganzer Körper erstarrte vor Schmerz. Wieder ein wilder, dumpfer Schrei. Er senkte den Kopf, wie ein Musiker, und lauschte auf den Ton, den die Klinge der Elle entlockte ... Erst nach einer Weile bemerkte er, daß sie besinnungslos geworden war.
Schließlich riß er sich von ihr los und kehrte zum Wagen zurück. Er hinterlegte die nächsten Hinweise, holte dann den Besen aus dem Kofferraum und verwischte sorgfältig alle Fußspuren. Er fuhr die Rampe hinauf, hielt mit laufendem Motor an, stieg wieder aus und beseitigte ebenso sorgfältig die Reifenspuren.
Er hielt inne und blickte in den dunklen Tunnelgang hinab. Er schaute zu ihr, schaute nur zu ihr hin. Plötzlich verzog der Knochensammler den Mund und lächelte. Er war überrascht, daß bereits die ersten Gäste auftauchten. Ein rundes Dutzend kleiner, roter Augenpaare, zwei Dutzend, dann drei ... Es schien, als musterten sie Hannas blutiges Fleisch voller Neugier... und möglicherweise auch Hunger. Doch das bildete er sich vielleicht nur ein. Denn eine lebhafte Phantasie hatte er weiß Gott.
ZWÖLF
»Mel, durchsuch die Kleidung der Colfax. Amelia, würden Sie ihm zur Hand gehen?«
Sie bedachte ihn wieder mit einem freundlichen Nicken - die Art, die gesellschaftlichen Anlässen vorbehalten war. Rhyme wurde klar, daß er ziemlich wütend auf sie war.
Auf Anweisung des Technikers zog sie Latexhandschuhe an, breitete die Kleidung vorsichtig über einem großen Bogen unbedruckten Zeitungspapiers aus und fuhr mit einer Roßhaarbürste darüber. Winzige Körnchen fielen herab. Cooper nahm sie mit einer Klebefolie auf und untersuchte sie unter dem Stereomikroskop.
»Viel ist es nicht«, berichtete er. »Der Dampf hat fast alle Spuren getilgt. Ich sehe ein bißchen Erde. Nicht genug für den Dichtegradienten. Moment ... Großartig, ich habe eine Faserprobe. Schau dir diese...«
Tja, kann ich nicht, dachte Rhyme wütend.
»Marineblau. Wolle mit Acryl, würde ich meinen. Für Teppichboden nicht grob genug, außerdem nicht genoppt. Stammt also von einem Kleidungsstück.«
»Bei dieser Hitze wird er kaum dicke Socken oder einen Pullover tragen. Eine Skimaske?«
»Darauf würde ich tippen«, sagte Cooper.
»Dann will er uns also wirklich eine Chance geben, sie zu finden«, meinte Rhyme nachdenklich. »Wenn er sie einfach umbringen wollte, käm's nicht drauf an, ob sie sein Gesicht sehen oder nicht.«
»Es bedeutet außerdem«, fügte Sellitto hinzu, »daß dieser Dreckskerl meint, er kommt davon. Der hat nicht vor, Selbstmord zu begehen. Könnte uns als Druckmittel beim Verhandeln dienen, falls er Geiseln bei sich hat, wenn wir ihn stellen.«
»Dein Optimismus gefällt mir, Lon«, sagte Rhyme.
Thom öffnete die Tür, als es unten schellte, und im nächsten Moment kam Jim Polling die Treppe herauf. Er wirkte zerzaust und abgehetzt. Tja, so sah man eben aus, wenn man von einer Pressekonferenz zur nächsten eilen und zwischen Bürgermeister und Bundesbehörden vermitteln mußte.
»Schade um die Forellen«, rief Sellitto ihm zu. »Jimmy ist nämlich ein waschechter Sportangler«, erklärte er Rhyme. »Macht seine Fliegen und alles selber. Ich dagegen bin schon zufrieden, wenn ich mit 'nem Sechserpack Bier auf 'nem Ausflugsboot sitze.«
»Erst schnappen wir diesen Drecksack, dann kümmer' ich mich um die Fische«, sagte Polling, nahm die Kaffeekanne, die Thom am Fenster stehenlassen hatte, und schenkte sich eine Tasse ein. Er schaute hinaus und kniff verwundert die Augen zusammen, als er feststellte, daß ihn zwei große Vögel anstarrten. Er drehte sich zu Rhyme um und erklärte, daß er wegen der Entführungssache einen Angelurlaub in Vermont habe verschieben müssen. Rhyme hatte noch nie geangelt - hatte nie die Zeit oder die Lust für irgendwelche Hobbys gehabt -, doch er stellte fest, daß er Polling beneidete. Die Gelassenheit war es vor allem, die ihm am Angeln zusagte. Es war ein Sport, den man allein ausüben konnte. Bei Sportarten für Krüppel handelte es sich für gewöhnlich um Disziplinen, denen man sich mit
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