Der Knochenjäger
andere Undercover-Agenten geführt. Das entsprach zwar nicht ganz Dellrays Idealvorstellung - nichts reizte ihn mehr als die Arbeit auf der Straße -, aber er hockte nach wie vor seltener im Büro als die meisten anderen FBI-Agenten. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, um eine Versetzung zu bitten.
Bis vor zwei Jahren - an einem warmen Aprilmorgen in New York. Dellray wollte gerade sein Büro verlassen, zum La Guardia fahren und dort seinen Flug antreten, als ihn ein Anruf des stellvertretenden FBI-Direktors aus Washington erreichte. Beim FBI wird Hierarchie großgeschrieben, und Dellray konnte sich nicht vorstellen, wieso der Obermacker persönlich anrief. Bis er dessen unheilverkündende Stimme hörte, als er ihm die Nachricht überbrachte, daß Toby Dolittle sowie ein stellvertretender Staatsanwalt aus Manhattan sich im Erdgeschoß eines von Bundesbehörden genutzten Bürogebäudes in Oklahoma City aufgehalten hatten, das an diesem Morgen von einer Bombe zerstört worden war. Die beiden hatten die Zeugenvernehmung vorbereitet, zu der Dellray soeben hatte aufbrechen wollen.
Tags darauf wurden die Leichen nach New York zurückgeflogen.
Und noch am gleichen Tag reichte Dellray seinen ersten RFT-2230-Antrag ein, in dem er um seine Versetzung zur Anti-Terror-Abteilung des FBI ersuchte.
Für Fred Dellray, der philosophische Werke und Bücher über Politik verschlang, wenn niemand zuguckte, war der Bombenanschlag der Inbegriff des Verbrechens gewesen. Gegen Habsucht und Gier gab es seiner Meinung nach grundsätzlich nichts einzuwenden - im Gegenteil, man wurde von allen Seiten dazu ermuntert, sei es an der Wall Street oder in Washington. Und wenn jemand die Grenzen der Legalität überschritt, brachte Dellray den Betreffenden gern zur Strecke - doch persönliche Vorbehalte hatte er dabei nicht. Aber Menschen einer Weltanschauung wegen zu ermorden - Kinder zu ermorden, verdammt noch mal, die noch gar nicht wußten, was eine Weltanschauung war—, mein Gott, das widersprach allen Werten der amerikanischen Gesellschaft. Als er nach Tobys Beerdigung in seiner spartanisch eingerichteten Zweizimmerwohnung in Brooklyn gesessen hatte, war Dellray zu dem Entschluß gekommen, daß er künftig gegen diese Art von Verbrechen zu Felde ziehen wollte.
Der Ruf, den er sich als Chamäleon erworben hatte, wog leider schwerer. Der beste Undercover-Agent des New Yorker FBI-Büros war mittlerweile ein wertvoller V-Mann-Führer, der zahlreiche Agenten und Informanten an der ganzen Ostküste betreute. Seine Vorgesetzten konnten es sich einfach nicht leisten, ihn zu einer ruhigeren Abteilung des FBI ziehen zu lassen. Dellrays Leistung war sagenhaft, und das FBI verdankte ihm einige seiner größten Erfolge in jüngerer Zeit. Daher wurden seine Versetzungsgesuche, wenn auch mit großem Bedauern, ein ums andere Mal abgelehnt.
Der ASAC kannte diese Vorgeschichte, und so fügte er entschuldigend hinzu: »Ich wünschte, ich könnte Ihnen weiterhelfen, Fred. Tut mir leid.«
Dellray entnahm diesen Worten lediglich, daß die Bresche ein Stück breiter geworden war. Und so schlüpfte das Chamäleon in eine seiner Rollen und starrte seinen Vorgesetzten bitterböse an. Er wünschte, er hätte noch seinen falschen Goldzahn. Dellray, der Mann von der Straße, war ein harter Typ mit einem hundsgemein fiesen Glotzen. Einem unmißverständlichen Blick, den auf der Straße jedermann auf Anhieb erkannte: Ich war für dich da, jetzt bist du für mich da.
»Aber wir brauchen einfach irgendwas«, wandte der eingeschüchterte ASAC matt ein.
»Irgendwas?«
»Einen Ansatz«, sagte der ASAC. »Wir haben keinen Ansatzpunkt.«
Einen Grund, der New Yorker Polizei den Fall aus der Hand zu nehmen, meinte er.
Politik, Politik, immer diese scheißverfluchte Politik.
Dellray senkte den Kopf, aber die braunen Augen waren unverwandt auf den ASAC gerichtet. »Er hat dem Opfer von heut' morgen das Fleisch vom Finger gezogen. Bis auf den Knochen. Dann hat er ihn lebendig begraben.«
Der ASAC faltete die rosigen Hände, stützte das straffe Kinn darauf. »Mir ist da etwas eingefallen«, sagte er bedächtig. »Der zweite Mann vom Präsidium, Eckert heißt er. Kennen Sie ihn? Er ist ein Freund von mir.«
Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen auf der Bahre, benommen, aber bei Bewußtsein. Immer noch blaß. Eine Kanüle, durch die sie intravenös mit einer Glukoselösung versorgt wurde, steckte in ihrem Arm. Nachdem der Blutverlust ausgeglichen war, war sie jetzt
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