Der Knochenjäger
gewohnt, Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen. Er hatte das nicht nötig. Er war daran gewöhnt, daß alles nach seinem Willen ging. Er gab nicht nach. »Einmal den Tatort abgehen.«
Du kannst mich am Arsch lecken, Lincoln Rhyme.
»Es ist—«
»Wichtig. Ich weiß.«
Sie betrachtete Monelle. Dann hörte sie, wie jemand, nein, wie sie zu dem Mädchen sagte: »Ich geh' jetzt da runter und suche nach Spuren. Wollen Sie mitkommen?«
Die junge Frau warf Sachs einen gepeinigten Blick zu. Sie brach in Tränen aus. »Nein, nein, nein. Ich kann das nicht. Bitte nicht, o nein, bitte nicht...«
Sachs nickte, drückte ihren Arm. Sie sprach ins Mikrofon, wappnete sich auf die Antwort, doch Rhyme überraschte sie. »In Ordnung, Amelia. Lassen Sie es sein. Fragen Sie sie nur, was nach der Ankunft am Tatort geschehen ist.«
Die junge Frau berichtete, daß sie ihn getreten habe und dann in einen angrenzenden Gang geflüchtet sei.
»Dort hab' ich ihn noch mal getreten«, sagte sie mit einer gewissen Genugtuung. »Und er hat seinen Handschuh verloren. Dann ist er sauer geworden und hat mich gewürgt. Er -«
»Ohne Handschuh?« versetzte Rhyme.
Sachs wiederholte die Frage, und Monelle bejahte.
»Abdrücke, ausgezeichnet!« rief Rhyme so laut, daß seine Stimme verzerrt wurde. »Wann war das? Wie lange ist es her?«
Etwa anderthalb Stunden, schätzte Monelle.
»Verdammt«, murmelte Rhyme. »Fingerabdrücke auf der Haut halten sich etwa eine Stunde, allenfalls anderthalb. Können Sie Abdrücke von der Haut nehmen, Amelia?«
»Ich hab's noch nie gemacht.«
»Tja, nun müssen Sie ran. Und zwar schleunigst. Im Spurensicherungskoffer finden Sie ein Päckchen mit der Aufschrift Kromekot. Nehmen Sie eine Karte heraus.«
Sie fand die glänzenden, etwa zehn mal fünfzehn Zentimeter großen Karten, die so ähnlich aussahen wie Fotopapier.
»Ich hab' sie. Soll ich ihren Hals einstäuben?«
»Nein. Drücken Sie die Karte mit der glänzenden Seite auf die Stelle an ihrem Hals, wo er sie ihrer Meinung nach berührt hat. Fixieren Sie sie etwa drei Sekunden lang.«
Sachs tat, wie ihr geheißen, während Monelle schicksalsergeben zum Himmel aufblickte. Dann stäubte sie die Karte auf Rhymes Anweisung hin mittels der Magna-Brush mit einem metallischen Pulver ein.
»Und?« fragte Rhyme ungeduldig.
»Gibt nichts her. Ein Umriß von einem Finger. Aber keine Papillarleisten. Soll ich sie wegschmeißen?«
»Werfen Sie an einem Tatort niemals etwas weg, Sachs«, belehrte er sie. »Bringen Sie sie hierher. Ich möchte sie mir ansehen.«
»Ich glaub', ich hab' was vergessen«, sagte Monelle. »Er hat mich betatscht.«
»Meinen Sie damit, daß er Sie belästigt hat?« fragte Sachs sanft. »Vergewaltigt?«
»Nein, nein. Mit Sex hatte das nichts zu tun. Er hat mich an der Schulter betatscht, am Gesicht, hinter dem Ohr. Am Ellbogen. Er hat mich gekniffen. Ich weiß nicht, warum.«
»Haben Sie das gehört, Lincoln? Er hat sie betastet, war aber anscheinend nicht sexuell erregt.«
»Ja.«
»Und... Und noch was hab' ich vergessen«, sagte Monelle. »Er hat Deutsch gesprochen. Nicht gut. So als hätt' er's in der Schule gelernt. Und er hat mich Hanna genannt.«
»Wie hat er sie genannt?«
»Hanna«, wiederholte Sachs ins Mikrofon. »Wissen Sie, warum?« fragte sie das Mädchen.
»Nein. Aber er hat mich ständig so genannt. Anscheinend hat ihm der Name gefallen.«
»Haben Sie das mitbekommen, Lincoln?«
»Ja. Und nun zum Tatort. Die Zeit läuft uns davon.«
Sachs wollte gerade aufstehen, als Monelle sie am Arm ergriff. »Miss ... Sachs. Sind Sie Deutsche?«
»Ursprünglich schon«, antwortete Sachs lächelnd. »Aber das ist lange her. Etwa zwei Generationen.«
Monelle nickte. Sie drückte Sachs' Hand an ihre Wange. »Vielen Dank, Miss Sachs. Vielen herzlichen Dank.«
FÜNFZEHN
Die drei starken Halogenlampen des Einsatzkommandos tauchten den grausigen Tunnel in ein unheimlich wirkendes grellweißes Licht.
Sachs, die nun allein am Tatort war, blickte einen Moment lang zu Boden. Irgend etwas war verändert. Was?
Wieder zog sie die Waffe und ging in die Hocke. »Er ist hier«, flüsterte sie und ging hinter einem Pfosten in Deckung.
»Was?« fragte Rhyme.
»Er ist zurückgekommen. Hier waren ein paar tote Ratten. Sie sind weg.«
Sie hörte Rhyme lachen.
»Was ist daran so komisch?«
»Nein, Amelia. Ihre Freunde haben die Leichen weggeschafft.«
»Ihre Freunde?«
»Ich hatte mal einen Fall in Harlem. Eine verstümmelte
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