Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Promotion überredet und ihm ziemlich eindringlich nahe gelegt, dass Tennessee dafür der richtige Ort wäre. Allerdings warf der Plan ein kleines Problem auf: Unsere Doktorandenstellen für den kommenden Herbst waren bereits besetzt.
Vier Monate später kam Steve dennoch nach Knoxville wie ein Fußballersatzspieler, der eine Woche vor dem Eröffnungsspiel doch noch einen Platz in der Stammmannschaft ergattern will. Ich brachte ihn in Kursen für Archäologie und Knochenkunde unter, immer in der Hoffnung, dass sich im forensischen Studiengang bald eine freie Stelle auftun würde - und dass Steve das Interesse bis dahin noch nicht verloren hatte.
Die Stelle kam, und er war noch interessiert. Schnell eignete er sich den Rest meines knochenkundlichen Lehrbuches an, und damit sicherte er sich einen Platz in unseren forensischen Einsatztrupps. Der Ersatzspieler hatte es geschafft: Er war in die erste anthropologische Mannschaft aufgerückt. Bei der Tatortaufklärung bewies Steve eine gute Auffassungsgabe, und außerdem - ebenso wichtig - war er ein hervorragender Fotograf. Man kann nie genug Tatortfotos haben, und am besten ist es, wenn sie auch noch gut sind. Steves Aufnahmen von Verbrechensschauplätzen waren - und sind bis heute - die besten, die ich kenne.
Nach acht langen Jahren der Promotionsstudien und Tatortarbeit legte Steve die Doktorprüfung ab; anschließend nahm er in der Behörde des medizinischen Sachverständigen von Nashville eine Vollzeitstelle als forensischer Anthropologe an, und nebenher wollte er hier in Nashville seine Doktorarbeit schreiben. Das Thema: Altersabschätzung durch Untersuchung der Verbindung von Schlüsselbein und Brustbein.
Dann folgte ein weiterer Wendepunkt in Steves Leben. Während einiger besonders gewalttätiger Wochen musste er in Nashville gleich drei Fälle mit zerstückelten Leichen bearbeiten. In einem davon zeigte der ermittelnde Beamte auf eine Kerbe im Knochen und fragte Steve, was er davon hielte. Froh über die Gelegenheit, seine Fachkenntnis unter Beweis zu stellen, richtete Steve sich auf und sagte in professoralem Ton: »Nun ja, das ist die Kerbe einer Säge in einem Armknochen.«
Der Polizist blickte Steve erbost an. »Dass es die Kerbe einer Säge in einem Armknochen ist, sehe ich selbst«, schnaubte er. »Sie sind doch hier der Knochendoktor. Was für eine Säge war es?«
Das wusste Steve nicht, aber nachdem sein errötetes Gesicht wieder erblasst war, entschloss er sich, es herauszufinden - und zwar nicht nur bei diesem speziellen Knochen, sondern für alle Typen von Sägen.
An dieser Stelle muss ich einflechten, dass ich damals schon seit Jahren vergeblich versuchte, einen Doktoranden für die Erforschung von Sägespuren zu interessieren. Mitte der achtziger Jahre hatten wir in Knoxville einen Sensationsfall mit einer zerstückelten Leiche. In einer Dreierbeziehung war der Hass ausgebrochen, und am Ende hatte die Frau zusammen mit einem ihrer Männer den anderen umgebracht; anschließend hatten sie ihn zerstückelt und die Einzelteile in der ganzen Stadt verteilt. Der Fall führte mir vor Augen, wie wenig wir eigentlich darüber wussten, welche Beweise eine Säge beim Zerlegen einer Leiche hinterlässt. Aber offensichtlich hatte niemand Lust, das Thema weiter zu verfolgen; auch Steve interessierte sich erst nach jenem blutigen Sommer in Nashville dafür, als er sich nicht nur einmal, sondern gleich in drei Fällen an dem Problem die Zähne ausgebissen hatte.
Ballistische Befunde gelten bei Polizeibehörden und Gerichten auf der ganzen Welt schon seit vielen Jahren als wissenschaftlich glaubwürdig. Nicht nur Menschen, auch Schusswaffen hinterlassen Fingerabdrücke: Der Schlagbolzen einer Pistole hinterlässt auf jeder Patrone, auf die er trifft, einen charakteristischen Abdruck; die Rillen im Lauf erzeugen auf jeder Kugel, die sie in Richtung des Opfers in Drehung versetzen, einzigartige Vertiefungen; der Auswurfmechanismus zerkratzt oder zerbeult die leere Patronenhülse jedes Mal, wenn er sie aus dem Verschluss wirft, auf die gleiche Art und Weise.
Wenn Schusswaffen charakteristische Merkmale haben, warum dann nicht auch Sägen? Steve und ich waren sicher, dass es so ist. Aber damals waren wir offensichtlich in der Minderheit. Nach der Lehrbuchmeinung sollte jeder Zug, jede Bewegung der Säge die Spuren der vorherigen zerstören; mit anderen Worten: Eine Säge verwischt ihre Spuren selbst. Steve wollte beweisen, dass es nicht so ist - dass man
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