Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
hatte ich 20 Jahre lang vor der Nase gehabt. Seit ich nach Knoxville gezogen war und die Leitung des anthropologischen Instituts der University of Tennessee übernommen hatte, war ich immer gern zur Arbeit gegangen. Das lag einerseits an der Arbeit selbst: Die Lehre macht meistens Spaß, und forensische Fälle fesseln mich. Andererseits lag es aber auch an Annette Blackbourne.
Annette hatte ich eingestellt, kurz nachdem ich die Stelle an der University of Tennessee angetreten hatte. Es gab bereits eine Sekretärin, aber als das Institut größer wurde und ein eigenes Forschungsprogramm aufbaute, brauchten wir eine zusätzliche Kraft, die unsere Forschungsgelder verwaltete. Während des Einstellungsgespräches war ich von Annettes Fähigkeiten in Organisations- und Finanzdingen beeindruckt. Noch stärker jedoch beeindruckten mich ihre Warmherzigkeit, ihre menschliche Reife und ihr Mitgefühl. In einem großen Institut wie dem unseren, in dem heimwehkranke Studienanfänger ebenso anzutreffen waren wie selbstbewusste Professoren auf Lebenszeit, waren Diplomatie und Humor unverzichtbare Eigenschaften.
Als die eigentliche Institutssekretärin kündigte und auf eine besser bezahlte Stelle wechselte, beförderte ich Annette in diese Position; noch später wurde ihre Stelle von der einer Sekretärin zur Verwaltungsassistentin aufgewertet. Vielleicht wäre Beraterin die zutreffendere Bezeichnung gewesen. Immer wenn eine schwierige Entscheidung bevorstand, besprach ich die Sache mit Annette, und mehr als einmal bewahrte sie mich vor folgenschweren Fehlern. Als vor der Body Farm beispielsweise Demonstranten auftauchten, hielt sie mich davon ab, hinüberzufahren und die Leute zur Rede zu stellen. Stattdessen beobachteten wir sie aus einem Auto, das wir auf der anderen Seite des Parkplatzes abgestellt hatten, und amüsierten uns über ihr schlaues Protestplakat; auf diese Weise konnte ich den Journalisten später mit einem viel kühleren, klareren Kopf gegenübertreten.
In den ganzen 20 Jahren unserer Zusammenarbeit war zwischen Annette und mir nie auch nur ein einziges böses Wort gefallen. Alle Institutsangehörigen - die anderen Dozenten, die Doktoranden, die Studienanfänger - verehrten sie. Ann und ich hatten uns im Laufe der Jahre eng mit Annette und ihrem Mann Joe angefreundet; Joe war Apotheker am Klinikum der University of Tennessee. Zweimal im Jahr quetschten wir uns zu viert in ein Auto oder Wohnmobil und machten über ein langes Wochenende einen gemeinsamen Ausflug in den Südwesten: nach Nashville, Asheville, Chattanooga, Mammoth Cave und ein halbes Dutzend anderer Orte. Kurz bevor Ann erkrankte, wurde bei Annettes Mann Lungenkrebs diagnostiziert. Er starb ungefähr zu der Zeit, als auch bei Ann die Krebsdiagnose feststand.
Während Anns Krankheit war Annette stets eine großzügige, einfühlsame Zuhörerin, und als Ann starb, wusste sie ganz genau, was in mir vorging. Mit Freundschaft und Verständnis half Annette mir über die schwierigen ersten Monate hinweg, und irgendwann wurde aus der Freundschaft Liebe. 14 Monate nach Anns Tod ließen Annette und ich uns in einer kleinen Kapelle der Second Presbyterian Church trauen. Ich fühlte mich wie neu geboren. Es war, als wäre ich noch einmal jung.
Kurz gesagt, lief im Herbst 1994 alles hervorragend. Es war zu schön, um wahr zu sein.
Der Ärger begann wieder einmal mit Wasserleichen. Viele Jahre zuvor hatte ich eine solche Leiche aus dem Kreis Roane in der Putzmittelkammer des Instituts verstaut und damit den Zorn des Hausmeisters auf mich gezogen. Dieses Mal war Tyler O’Briens Adipocire-Untersuchung der Ausgangspunkt des Problems. Adipocire oder Leichenwachs ist die schmierige, wachsartige Substanz, mit der Leichen aus Seen, Flüssen und feuchten Kellern häufig bedeckt sind. Angesichts der vielen Gewässer in Tennessee war ich mit Adipocire bestens vertraut. Aber wie gewöhnlich interessierte ich mich nicht nur für das Was und Warum, sondern auch für das Wann. Wenn mich dann das nächste Mal ein Polizist oder ein Rettungsteam zu einer Wasserleiche brachte, konnte ich ihnen anhand der Menge an Leichenwachs zumindest mit einem gewissen Maß an wissenschaftlicher Zuverlässigkeit sagen, wie lange diese Leiche schon »bei den Fischen lag«.
Ich versuchte mehrere Studenten davon zu überzeugen, dass sie ihre Examensarbeit über Adipocire schreiben sollten, aber damit stieß ich auf wenig Gegenliebe; vermutlich waren sie alle schon lange genug bei uns und
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