Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
wussten, dass Wasserleichen die schlimmsten von allen sind - sie stinken am stärksten und sind schmieriger als alle anderen. Im Herbst 1993 lief mir schließlich Tyler O’Brien über den Weg, der den Sommer zuvor bei der Behörde des medizinischen Sachverständigen in Syracuse im Staat New York gearbeitet hatte. Rund um Syracuse liegen die Finger Lakes, sodass Tyler in dem Sommer beim medizinischen Sachverständigen eine ganze Reihe von Ertrunkenen zu sehen bekam. Manche dieser Leichen waren voller Adipocire, andere jedoch nicht, und Tyler interessierte sich wie ich brennend dafür, wie dies mit den Bedingungen und der seit dem Tod verstrichenen Zeit zusammenhing.
Am einfachsten wäre es gewesen, Leichen in dem Fluss unterhalb der Forschungseinrichtung zu verankern. Aber wir wollten nicht, dass die Fischer ein halbes Jahr lang jeden Tag die Polizei anriefen, und deshalb dachte Tyler sich ein neues System aus: Er schaufelte drei Gruben von der Größe eines Grabes, legte sie mit dicker Kunststofffolie aus und füllte sie mit Wasser. Für eine solche enger gefasste, besser kontrollierte Studie sprachen stichhaltige wissenschaftliche Argumente. Er konnte auf diese Weise die Zahl der Variablen einschränken - hungrige Fische beispielsweise blieben in seiner Gleichung außen vor - und sich ohne störende äußere Einflüsse ausschließlich auf die Entstehung der Adipocire konzentrieren.
Tyler stellte seine Untersuchungen an den Leichen an, die in den drei Gruben lagen. Um sie während des Experiments zu verschiedenen Zeitpunkten untersuchen zu können, legte er auf den Boden jeder Grube ein Drahtgitter mit Haken an den Ecken, das er hochziehen konnte; darauf platzierte er dann die Leichen. Die Erste schwamm wie ein Korken. Wir drückten den Kopf unter Wasser, und die Füße stiegen nach oben; wir drückten die Füße hinunter, da kam der Kopf wieder hoch. Wir überlegten, ob wir die Leiche mit Gewichten beschweren sollten, aber dann entschlossen wir uns, sie selbst die richtige Höhe im Wasser suchen zu lassen. Dafür sank die zweite zum Boden wie ein Stein. Ertrunkene oder Mordopfer, die in einen See oder Fluss geworfen werden, steigen häufig nach einigen Tagen oder Wochen an die Oberfläche, weil sich in der Bauchhöhle die Fäulnisgase ansammeln, aber dieser Bursche sank nach unten und blieb dort. Der dritte Tote war ein großer, stämmiger Farbiger. Da Schwarze schwerere Knochen haben als Weiße, war ich überzeugt, dass er ebenfalls untergehen würde, aber er bereitete mir eine Überraschung. Wie die erste Leiche schwamm er obenauf.
Tyler ließ die Leichen fünf Monate im Wasser liegen. Danach hatte sich das Fleisch völlig zersetzt, und neue Erkenntnisse waren kaum noch zu erwarten. Aber in der Zwischenzeit hatte er einige interessante Phänomene beobachtet. Einer der interessantesten Befunde: Adipocire bildet sich nicht gleichmäßig am ganzen Körper, sondern nur ungefähr fünf bis acht Zentimeter unterhalb und oberhalb der Wasserlinie. Wir vermuteten, es müsse damit zusammenhängen, dass sowohl Wasser als auch Sauerstoff zur Verfügung stehen, aber das wussten wir nicht mit Sicherheit. Wie fast jedes gute Forschungsprojekt hatte Tylers Untersuchung viele Fragen beantwortet und mindestens ebenso viele neue aufgeworfen.
Zuvor hatte sich die Untersuchung der Adipocire-Bildung auf kleine Gewebeproben beschränkt, die man im Labor in Gefäße mit Wasser gelegt hatte. Was den Ablauf in seinem natürlichen Umfeld anging, leistete Tyler mit seiner Studie echte Pionierarbeit. Er machte umfangreiche Aufzeichnungen und viele Fotos; außerdem kam die Videoabteilung der Universität und stellte ein paar Filmaufnahmen von dem Experiment her. Die Bilder auf dem Videoband waren grausig, andererseits aber wissenschaftlich auch so aufschlussreich, dass ich sie in einen Lehrfilm für Polizeibeamte aufnahm. Wir zeigten ihn im Rahmen eines Weiterbildungsprogramms der Universität, das als Law Enforcement Satellite Academy of Tennessee oder kurz LESAT bezeichnet wurde.
Leider sah eine Fernsehjournalistin aus Nashville, die bei LESAT einen Vortrag halten sollte, ausgerechnet dieses Band und war darüber völlig entsetzt. Das ist nicht verwunderlich: Selbst mir fiel es schwer, die Aufnahmen anzusehen, und ich habe tagtäglich mit verwesenden Leichen zu tun. Auch Aufnahmen von chirurgischen Operationen bereiten mir Unbehagen, aber das heißt nicht, dass der Chirurg darin irgendetwas falsch gemacht hätte. Rückblickend kann ich
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