Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Angehörigen und verärgerten Bürgern; auch Beamte der Universität, die wegen der negativen Publicity beunruhigt waren, riefen mich an. Rückblickend betrachtet, war so etwas wohl unvermeidlich. Jahrelang hatten wir mit unseren Forschungen den üblichen Weg der Gesellschaft, mit Toten umzugehen, verlassen; jahrelang hatte sich das Medieninteresse auf wenige, meist aber positive Berichte über unseren Beitrag zur Verbrechensaufklärung beschränkt; und in jüngster Zeit waren wir durch einen Krimibestseller ins Rampenlicht des ganzen Landes gerückt. Wir waren ein aktuelles Thema, und vielleicht war irgendjemand irgendwo zu der Ansicht gelangt, wir müssten den einen oder anderen Schuss vor den Bug bekommen.
Ich hoffte, der Ärger werde sich schnell wieder legen, aber diese Hoffnungen zerschlugen sich schon bald. Wie sich herausstellte, war die anfängliche Aufregung nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen, denn jetzt mischte sich der Beauftragte des Staates Tennessee für Angelegenheiten der Veteranen in den Streit ein. Er veranlasste mehrere Mitglieder des Staatsparlaments, einen Gesetzentwurf einzubringen, der unsere Forschung an herrenlosen, von medizinischen Sachverständigen zugelieferten Leichen praktisch unmöglich gemacht hätte. Angesichts der Tatsache, dass solche Leichen einen beträchtlichen Anteil unserer Forschungsobjekte stellten, wären die Folgen verheerend gewesen.
Dass die Sache zu einer solchen Krise eskalierte, verblüffte mich. Es war die einzige derartige Forschungseinrichtung auf der ganzen Welt. In den ersten Jahren hatten wir wegweisende Befunde über Vorgänge und zeitlichen Ablauf bei der Verwesung von Leichen veröffentlicht, und diese grundlegenden Erkenntnisse waren auf der ganzen Welt von Nutzen. Sie hatten der Polizei und den Staatsanwälten geholfen, Dutzende von Mördern hinter Gitter zu bringen. Ich selbst hatte in zahlreichen Mordprozessen als Sachverständiger ausgesagt und in nicht wenigen Fällen dazu beigetragen, dass Mörder ins Gefängnis kamen. Meine früheren Doktoranden waren selbst zu anerkannten Wissenschaftlern geworden und erarbeiteten sich auf der Grundlage ihrer Arbeiten auf der Body Farm einen eigenen Ruf als führende Experten. Und dabei kratzten wir gerade erst an der Oberfläche. Es gab noch so viele Faktoren zu untersuchen, so viele Methoden zu entwickeln und zu verfeinern …
Ich wusste, dass ich diesen Kampf nicht allein ausfechten konnte, anfangs hatte ich aber auch keine Ahnung, wer als Helfer in Frage kam. In wissenschaftliche Streitigkeiten war ich auch früher schon verwickelt gewesen, aber in juristische noch nie. Wenn wir in dem Konflikt unterlagen, würde die Body Farm als kühnes, aber gescheitertes Experiment in die Wissenschaftsgeschichte eingehen.
Dann fielen mir die Staatsanwälte ein. Bei ihnen könnte der Schlüssel liegen. Es gab in Tennessee 31 Bezirksstaatsanwälte, und die waren nicht nur mit der Durchsetzung der Gesetze beauftragt, sondern sie waren auch Volksvertreter: Sie wurden in ihr Amt gewählt und behielten es, weil sie entschlossen waren, Verbrechen zu bekämpfen. Einigen von ihnen hatte ich unmittelbar geholfen; ich hatte sogar zur Verurteilung eines Mannes beigetragen, der ein paar Jahre zuvor in Knoxville einen Assistenten des Bezirksanwalts ermordet hatte.
Ich holte mein Telefonverzeichnis der Strafverfolgungsbehörden von Tennessee und wählte eine Nummer nach der anderen. Ich stellte ihnen die Sache mit den Kriegsveteranen aus meiner Sicht dar, schickte ihnen eine kurze Zusammenfassung der Geschichte unserer Forschungseinrichtung und legte dar, was es - nicht nur für mich, sondern auch für Polizei und Staatsanwälte - bedeuten würde, wenn das Parlament unsere Forschungsarbeiten auf der Body Farm einschränkte.
Drei Monate nachdem Channel 4 die Serie Last Rights ausgestrahlt hatte, wurde das entscheidende Anti-Body-Farm-Gesetz in einem wichtigen Senatsausschuss zur Abstimmung gestellt. In dem Ausschuss saßen zwei Initiatoren des Gesetzes, die Sache sah für uns also düster aus. Aber dann sprach sich ein anderer Senator, der zu dem Gesetzentwurf Stellung nehmen sollte, sehr leidenschaftlich dagegen aus. Er argumentierte, das Gesetz werde praktisch zur Schließung der Body Farm führen und damit die Strafverfolgung behindern. »Die Sorge um die Überreste Verstorbener sollte hinter der Notwendigkeit, Verbrecher zu ergreifen, zurücktreten«, sagte er. Der Ausschuss sprach sich mit fünf gegen vier Stimmen dafür aus, die
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