Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Aufmerksamkeit der Medien auch war, sie lenkte mich ab. Wären wir bereit gewesen, Forschung, Lehre und Schreiben aufzugeben, hätten wir 24 Stunden am Tag Besucher durch die Forschungseinrichtung führen können. Ich halte jedes Jahr rund 100 Vorträge vor Polizisten, Bestattungsunternehmern und anderen Gruppen, und fast immer fragen die Zuhörer, ob sie die Body Farm auch besichtigen können. Einmal riefen innerhalb einer Woche die Mütter von zwei verschiedenen Pfadfindergruppen an und erkundigten sich, ob ich ihre Kinder nicht durch die Body Farm führen könne. Als es so weit war, hatte ich endgültig genug: Die Sache glitt uns eindeutig aus den Händen. Jetzt sagte ich viel häufiger nein als ja. Dennoch willige ich auch heute noch in vielen Fällen ein, und meine Kollegen tun das Gleiche.
Teilweise ist die Aufmerksamkeit auch ein Segen. Durch Patricia Cornwells Bestsellerroman und das anschließende Medieninteresse bekommen wir mittlerweile viel mehr Anfragen von Menschen, die ihre Leiche für die Forschung spenden wollen. Und wenn solche Spender sich zum ersten Mal an die Universität wenden, sagen sie fast immer: »Ich möchte meinen Körper der Body Farm stiften.«
Im November 2002 erschien ein weiteres bemerkenswertes Buch von Patricia Cornwell, dieses Mal ein Sachbuch. Portrait of a Killer: Jack the Ripper, Case Closed (deutsch Wer war Jack the Ripper? ) war das Ergebnis zweijähriger, eingehender forensischer Untersuchungen. Hier ahmt das Leben die Kunst nach - oder genauer gesagt: Die Kunst gibt dem Leben eine Anregung. Die Krimiautorin hat sich selbst als echte forensische Detektivin neu erfunden. Nachdem sie tief in die Vergangenheit eingedrungen ist und sich neuester DNA-Technologie bedient hat, vertritt sie in dem Buch die Ansicht, Jack the Ripper sei ein viktorianischer Künstler namens Walter Sickert gewesen, denn dieser malte eine grausige Serie von Morddarstellungen, die verblüffende Ähnlichkeit mit den Mordschauplätzen und Opfern von Jack the Ripper hatten. Sollte Patricia Cornwell sich irgendwann entschließen, die Romanschriftstellerei aufzugeben, könnte sie sich in der wirklichen Welt als zuverlässige forensische Ermittlerin nützlich machen.
Es gibt im Leben manchmal Augenblicke, an denen sich etwas ein für allemal ändert - was man aber meist erst im Rückblick erkennt. Heute kann ich voller Stolz sagen: Ein solcher Augenblick war für mich und für die anthropologische Forschungseinrichtung das Erscheinen von The Body Farm . Und ich bin stolz, dass ich Patricia Cornwell als Kollegin und Freundin bezeichnen darf.
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Neue Fortschritte, neue Proteste
E in halbes Jahr nachdem die anthropologische Forschungseinrichtung durch Patricia Cornwells Roman The Body Farm ins Rampenlicht gerückt war, sonnte ich mich immer noch im Medieninteresse. Ich war mit Journalisten immer gut ausgekommen, vor allem weil es mir nichts ausmachte, ihnen von meinen Untersuchungen und Erfahrungen mit verwesenden Leichen und nackten Knochen zu erzählen. Meine Offenheit hatte mich manchmal in peinliche Situationen gebracht - insbesondere als ich mich beim Todeszeitpunkt des Colonel Shy um 113 Jahre verschätzte -, aber ich hatte auch dazu beigetragen, die forensische Anthropologie und ihre Bedeutung für die Verbrechensbekämpfung in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Mittlerweile leitete ich seit fast 25 Jahren das anthropologische Institut der University of Tennessee. In diesem Vierteljahrhundert war der Lehrkörper von sechs auf 20 Personen angewachsen. Unser Studiengang war von einem kleinen Hauptfachkurs für Anfänger zu einer der besten Ausbildungsmöglichkeiten für forensische Anthropologen im ganzen Land geworden. Heute gibt es in den gesamten Vereinigten Staaten rund 60 staatlich anerkannte forensische Anthropologen, und jeder Dritte unter ihnen hat irgendwann einmal bei mir studiert.
Das Council for the Advancement and Support of Education hatte mich zum Professor des Jahres ernannt, und zwar nicht nur für die University of Tennessee oder unseren Bundesstaat, sondern für die gesamten Vereinigten Staaten und Kanada. Wenig später kam Präsident Ronald Reagan nach Knoxville und aß mit mir zu Mittag. Unsere Arbeit weckte in Amerika und auf der ganzen Welt Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ich wurde zu Vorträgen nach Australien, Kanada und Taiwan eingeladen.
Zu meiner eigenen Überraschung führte ich auch wieder ein ausgefülltes, glückliches Privatleben. Den Grund für diese Veränderung
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