Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
sehr grausig, aber andererseits war die Untersuchung eines gerade erst ausgegrabenen Mordopfers eine einzigartige Gelegenheit, etwas zu lernen, eine Chance, die sich nur wenigen Studenten der Anthropologie - und noch nicht einmal allen Professoren - jemals bietet.
Ich erklärte den Studenten, welches Ziel man verfolgt, wenn man in einem Kriminalfall eine Leiche untersucht: Man will sie eindeutig identifizieren. Außerdem will man möglichst auch die Todesursache feststellen (genau genommen, können nur medizinische Sachverständige die Todesursache feststellen; wir Anthropologen sprechen von der »Todesart«).
Aber bevor man etwas darüber aussagen kann, wer es war und wie er gestorben ist - was sich nicht immer feststellen lässt -, fängt man mit den vier großen Eigenschaften an: Geschlecht, Rasse, Alter und Körpergröße.
Wenn ich die sterblichen Überreste eines Menschen untersuche, lege ich den Leichnam oder die Knochen immer zunächst in der richtigen anatomischen Anordnung auf den Rücken. Das dauerte in diesem Fall nicht lange: Die Polizei hatte mir nur drei Teile gebracht - einen Oberschenkelknochen, den Unterkiefer und den Schädel. Damals, 1962, rief man nur in den seltensten Fällen einen Anthropologen zur Ausgrabung oder Bergung der Überreste an einen Tatort; das erledigte die Polizei, so gut sie konnte (manchmal sorgfältig, oft aber auch sehr unbeholfen), und dann brachte sie den Schädel oder wie in diesem Fall vielleicht einen gebrochenen Knochen oder eine durchtrennte Rippe und fragte nach allem, was ihr rätselhaft vorkam. Es war, als sollte ein Mechaniker am Auto die Ursache von Fehlzündungen finden, aber man bringt ihm nicht das ganze Fahrzeug, sondern nur den Vergaser oder den Zündverteiler; aber so wurde es damals tatsächlich gehandhabt. Glücklicherweise entwickelte sich zwischen der Polizei und mir im Laufe der Jahre eine gute Arbeitsbeziehung, und später wurde ich immer häufiger an den Schauplatz von Verbrechen gerufen, sobald man Leichenteile gefunden hatte und bergen wollte.
Als die Studenten näher kamen und sich die Sache genauer ansehen wollten - wobei manche wegen des Gestanks den Atem anhielten -, untersuchten wir den Oberschenkelknochen. Es hing noch eine ganze Menge anderes Gewebe daran. An der Form des Hüftgelenkkopfes (das ist die »Kugel«, die in der Gelenkpfanne der Hüfte liegt) und der unteren Gelenkfläche, die am Knie mit dem Schienbein verbunden ist, konnte ich erkennen, dass wir es mit dem rechten Oberschenkel zu tun hatten. Ich legte ihn ins Gras neben einen imaginären Hüftknochen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein Becken, eine Wirbelsäule, zwei Arme und einen Brustkorb. An das obere Ende der gedachten Wirbelsäule legte ich den Kopf und den Unterkiefer.
Das Gesicht war nicht mehr vorhanden. Aus dem Gras starrte uns ein schmieriger, schmutziger Schädel an; seitlich und am Hinterkopf hingen noch verwesende Haut- und Muskelfetzen daran. Für einen Knochenspezialisten wie mich (der Begriff »forensischer Anthropologe« wurde erst später geprägt) machte das Fehlen von Fleisch im Gesicht die Aufgabe nur einfacher.
Das hatte folgenden Grund: Die Haut einer Leiche kann täuschen. Ist der Körper aufgedunsen, schwillt unter Umständen auch das Gesicht an, sodass das Geschlecht nur noch schwer zu erkennen ist. Wenn die Geschlechtsorgane fehlen - weil die Leiche zerlegt wurde, zerfallen oder verwest ist oder Tieren als Nahrung gedient hat - oder wenn das weiche Gewebe schon stark abgebaut ist, liefert die Form der Knochen häufig die zuverlässigsten Erkenntnisse.
Dieser Schädel hier war klein, und das ließ mich sofort an eine Frau oder ein Kind denken. Der Mund war schmal und das Kinn spitz - ebenfalls charakteristische Merkmale einer Frau. Die glatte, fast stromlinienförmige Stirn und der Augenbrauenwulst waren sogar ein regelrechtes Lehrbuchbeispiel für einen weiblichen Schädel. Das erklärte ich auch den Studenten.
»Sie haben vermutlich schon öfter Comics mit großen, klobigen Neandertalern und Höhlenmenschen gesehen«, sagte ich. »Da haben die Männer diese riesigen Augenbrauenwülste, damit es nicht wehtut, wenn ein anderer Höhlenmann mit dem Oberschenkelknochen eines Mammuts draufschlägt.« Darüber mussten sie lachen; im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass Humor den Studenten das Lernen erleichtert, und deshalb suche ich immer nach Anlässen, um meine Erklärungen mit Witzen aufzulockern. »Ich möchte nicht behaupten, die
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