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Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Titel: Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bass Jon Jefferson
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die Schamfuge - die Stelle in der Körpermitte, wo das linke und das rechte Schambein zusammentreffen - ein ausgezeichneter Maßstab zur Altersbestimmung. Von der späten Jugend bis ungefähr zum 50. Lebensjahr macht die Knochenoberfläche der Schamfuge eine allmähliche, immer gleiche Wandlung durch, die vor über 80 Jahren zum ersten Mal untersucht und genau aufgezeichnet wurde. Bei Frauen ist die Schamfuge zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr höckerig; danach, in den Zwanzigern und Dreißigern, wird sie allmählich glatter; ungefähr vom 40. Lebensjahr an altert ihre Oberfläche und nimmt ein poröses, schwammartiges Aussehen an. Betrachtet man sie im Zusammenhang mit anderen Aspekten des Skeletts wie Zähnen, Schädelnähten oder der Verschmelzung von Enden und Schaft der Schlüsselbeine, kann man als Anthropologe anhand der Schamfuge recht genau das Alter abschätzen - häufig weicht die Schätzung nur um ein oder zwei Jahre vom tatsächlichen Alter der betreffenden Person ab.
    Zur Feststellung der Rasse dagegen bot der Schädel alle erforderlichen Anhaltspunkte. Ich machte die Studenten auf den Mund der Frau aufmerksam. Die Zähne standen stark nach vorn, und genauso waren auch die Kieferknochen in dem Bereich orientiert, in dem die Zahnwurzeln saßen. Diese Eigenschaft bezeichnet man als Prognathie (nach dem altgriechischen Begriff für »Kiefer nach vorn«); selbst der unerfahrenste Anthropologe erkennt darin ein charakteristisches Kennzeichen eines negroiden Schädels.
    Eine einfache Prüfung auf Prognathie demonstrierte ich mit dem Schädel in der Hand. Man braucht nur einen Bleistift zu nehmen und ein Ende zwischen Oberlippe und Nase ans Gesicht zu drücken. Nun hält man dieses Ende als Drehpunkt fest und schwenkt den Bleistift nach unten. Berührt er Lippen und Zähne, nicht aber das Kinn, handelt es sich um einen Schädel mit Prognathie, der vermutlich von einem Negroiden stammt; berührt er dagegen sowohl das untere Ende der Nasenöffnung als auch die Kinnspitze, spricht man von Orthognathie, und es handelt sich wahrscheinlich um einen Weißen.
    Unser Schädel bestand den Prognathie-Bleistifttest mit Bravour; der Bau des Kieferknochens war ein Lehrbuchbeispiel für die typische Struktur bei Negroiden. Eine weitere Bestätigung lieferten die Zähne selbst: Die Oberfläche der Molaren wies viele Erhöhungen und Vertiefungen auf, ganz anders als bei den Zähnen von Weißen, die viel kleinere Höcker haben.
    Ein paar Worte zum Thema Rasse: In den letzten Jahren ist die Vorstellung von verschiedenen Rassen stark in Frage gestellt worden. Einer neueren Denkschule zufolge ist die Rassenzugehörigkeit kein objektives körperliches oder genetisches Merkmal, sondern nur eine kulturelle Konstruktion. Einerseits ist es sicher nützlich, wenn wir fragen und neu darüber nachdenken, was wir eigentlich unter Rassen verstehen; andererseits habe ich im Laufe eines knappen halben Jahrhunderts Zehntausende von Schädeln untersucht, und ihre Merkmale - die man sehen, als Zahlenwerte messen und statistisch darstellen kann - lassen sich ganz einheitlich in drei Hauptgruppen einteilen: negroid, kaukasoid und mongolid (wobei man als Mongolide die Asiaten, Eskimos und die amerikanischen Ureinwohner bezeichnet, im Gegensatz zu Patienten mit dem Down-Syndrom, die früher auch »Mongoloide« genannt wurden). Je stärker sich die Menschen auf der ganzen Welt vermischen, desto mehr verwischen sich auch die traditionellen Rassenunterschiede und die entsprechenden Bezeichnungen, aber vorerst halte ich daran fest, denn sie helfen mir, die Toten zu identifizieren, und sie helfen der Polizei, Mordfälle aufzuklären.
    Für diesen Nachmittag hatten die Studenten genügend Kenntnisse und genügend Gestank in sich aufgenommen. Ich steckte Schädel und Oberschenkel wieder in die Plastiktüte, schloss die Kiste und brachte sie zu meinem Auto. Anders als die Polizisten brachte ich sie im Kofferraum unter. Zwar widerstrebte es mir, die Reste auf einem der Sitze zu transportieren, aber ich war entschlossen, sie in unsere Küche zu bringen und auf Anns Herd zu kochen.
    Um meine Altersschätzung zu präzisieren und etwas über den Körperbau der Frau aussagen zu können, musste ich das verbliebene Gewebe von den Knochen entfernen. Da ich es mir nicht leisten konnte, Schädel und Oberschenkel einfach im Freien liegen zu lassen, sodass Insekten und Aasverwerter die Knochen sauber fraßen - ein langsamer Vorgang, bei dem Oberschenkelknochen oder

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