Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
sie den Zahnarzt weiß Gott gut brauchen können: Zwei Zähne im Unterkiefer und fünf im Oberkiefer hatten große Karieslöcher, und kleinere Schäden waren auch an den meisten anderen Zähnen zu erkennen. Noch schlimmer war, dass sich an einem oberen Weisheitszahn ein Abszess gebildet hatte. Aus der fehlenden zahnärztlichen Versorgung konnte man schließen, dass die Frau vermutlich arm war. Sie hatte es lange geschafft, mit diesen Zähnen zurechtzukommen, und sogar die Schmerzen des Abszesses ausgehalten; demnach war sie vermutlich hart im Nehmen. Außerdem hatte das Gebiss noch eine andere seltsame Eigenschaft: Als ich den Unterkiefer an den Schädel hielt, konnte ich ihn nicht ganz mit dem Oberkiefer zur Deckung bringen; der Unterkiefer war ungefähr einen halben Zentimeter nach rechts verschoben, sodass sie einen leichten, aber eindeutigen Kreuzbiss hatte, und der war sicher immer zu sehen, sobald sie lächelte.
Da keine Zeichen für zahnärztliche Versorgung, keine Unterlagen über die Zähne und keine Fotos vorhanden waren, konnte ich die Leiche nicht eindeutig identifizieren. Vorläufige Mutmaßungen über die Identität waren jedoch möglich. In der Kleinstadt Atchison in Kansas, gut 30 Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt, hatte man am 10. August, etwa drei Wochen zuvor, eine Frau als vermisst gemeldet. Sie hieß Mary Louise Downing, war eine farbige Frau von 32 Jahren und 1,66 Metern Größe. Es gab zwar keinen hieb- und stichfesten, eindeutigen Beweis, dass Schädel und Oberschenkel zu ihr gehörten, aber meine Untersuchungsergebnisse enthielten auch nichts, was Anlass zu Zweifeln an dieser Annahme gegeben hätte. Ich hätte um den Preis eines neuen Herdes gewettet, dass es sich um Mary Louise handelte.
Am Samstag, dem 8. September, schrieb ich meinen Bericht und schickte ihn dem Polizeibeamten, der die Ermittlungen in dem Fall leitete; eine Kopie ging an den Direktor der Polizei von Kansas in Topeka. In enger Schreibmaschinenschrift war das Papier noch nicht einmal zwei Seiten lang.
Letztlich konnte ich der Polizei außer Geschlecht, Rasse, Alter, Körpergröße und schlechtem Gebisszustand nicht viel sagen. Schädel und Oberschenkel lieferten keinerlei Aufschlüsse darüber, wie sie gestorben war. Aber die Polizei hatte offenbar mehr Anhaltspunkte als ich, denn nachdem ich meinen Untersuchungsbericht abgeliefert hatte, waren sie überzeugt davon, dass sie Mary Louise Downing gefunden hatten. Da sie versteckt in einem abgelegenen Teil der Flussniederung gelegen hatte, ging man davon aus, dass es sich um Mord handelte.
Aber damit begannen die Fragen erst. Wer hatte sie umgebracht, warum, wo und wann? Die Lösung dieses Rätsels kannten nur zwei Menschen, nämlich der Mörder und Mary Louise. Und keiner von beiden redete.
Nachdem ich den Bericht weggeschickt hatte, nahm ich mir noch einmal den Schädel vor. In Wangenknochen und Unterkiefer, knapp vier Zentimeter beiderseits der Mittellinie, befanden sich vier saubere, winzige Löcher; dort waren die Gesichtsnerven aus dem Gehirn ausgetreten. Diese dünnen Bündel aus elektrochemisch aktiven Fasern übertrugen die innere Traurigkeit der Frau als Stirnrunzeln nach außen, machten aus einer glücklichen Stimmung das leicht seitlich verschobene Lächeln, das der Kreuzbiss ihr verlieh. Sie war Tochter, Ehefrau, Mutter gewesen. Jetzt war sie nur noch ein Fall - und zwar einer, den niemand lösen konnte.
Ihr Verschwinden an jenem Augusttag war der Lokalzeitung keine Meldung wert gewesen; und die Entdeckung der Leiche Anfang September wurde auf fünf Spaltenzentimetern abgehandelt. Offensichtlich fiel Mary Louise im Leben wie im Tod durchs Raster - unbemerkt, unbeachtet, unbedeutend.
Und doch... Und doch... Mittlerweile ist Mary Louise seit 40 Jahren bei mir. Sie war fast in jedem Hörsaal, in den ich meinen Fuß gesetzt habe. Sie ist mit mir zu Vorträgen und Tagungen in den ganzen Vereinigten Staaten gereist: zur FBI-Akademie in Quantico in Virginia; zu Ausbildungsveranstaltungen des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in einem halben Dutzend Bundesstaaten; zum zentralen Identifizierungslabor der US-Armee in Honolulu auf Hawaii. Zu Lebzeiten hat Mary Louise sich wahrscheinlich nie weit von Atchison entfernt, und vermutlich hat sie auch nicht viel geleistet, was einer besonderen Erwähnung wert wäre. Im Tod jedoch ist sie um die halbe Welt geflogen und hat bei der Ausbildung Tausender von Studenten und mehrerer hundert forensischer
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