Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
bezeichnet. Der Name spielt auf ihr Aussehen an: Sie sind zickzackförmig wie die unregelmäßigen Stiche, die Dr. Frankensteins Monster zusammenhalten. Wenn wir geboren werden, bestehen sie aus Knorpel, aber mit fortschreitendem Alter verknöchern sie und werden glatter, sodass sie mit den Jahren in vielen Fällen fast überhaupt nicht mehr zu erkennen sind.
Bei dieser Frau hatte sich die Kranznaht, die oben quer über den Schädel verläuft, bereits weit gehend geschlossen; demnach musste sie mindestens 28 gewesen sein, denn diese Schädelnaht schließt sich in der Regel als letzte. Da sie aber erst teilweise verwachsen war, konnte man annehmen, dass die Frau vermutlich nicht weit über 30 war - nach meiner Schätzung allerhöchstens 34.
So weit, so gut: Jetzt kannte ich drei der vier wichtigen Eigenschaften, nämlich Geschlecht, Rasse und Alter. Damit blieb nur noch die Frage nach dem Körperbau. Wie Künstler und Wissenschaftler schon vor Jahrhunderten erkannten, ist die Körpergröße von Menschen zwar sehr unterschiedlich, die Proportionen jedoch - beispielsweise das Verhältnis zwischen Beinlänge und Gesamtgröße - sind immer mehr oder weniger die Gleichen. Eine berühmte Abbildung aus Leonardo da Vincis Notizbüchern zeigt einen nackten Mann in einem Kreis und einem Quadrat; er hat vier Arme (von denen zwei waagerecht ausgestreckt sind, während er die anderen so in die Höhe streckt, dass die Fingerspitzen auf der gleichen Höhe sind wie der höchste Punkt des Kopfes) und vier Beine (ein Paar mit geschlossenen Füßen, das andere um mehrere Fußlängen gespreizt). In seinen Erläuterungen zu der Abbildung zitiert Leonardo in der für ihn typischen Spiegelschrift folgende Beobachtungen, die der Architekt Vitruvius über die Proportionen des Menschen anstellte: »Die Länge der ausgestreckten Arme eines Menschen ist ebenso groß wie seine Körpergröße... die größte Breite der Schultern enthält in sich den vierten Teil des Menschen. Vom Ellenbogen bis zur Spitze der Hand misst man den fünften Teil eines Menschen; und vom Ellenbogen bis zum Winkel der Achselhöhle den achten Teil eines Menschen. Die ganze Hand ist der zehnte Teil eines Menschen.«
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gingen die Anthropologin Mildred Trotter und die Statistikerin Goldine Gleser von diesem uralten Begriff der Proportionen aus und versuchten sie durch umfangreiche Skelettuntersuchungen zu verfeinern. Nachdem sie Hunderte von Skeletten vermessen hatten, entwickelten Trotter und Gleser mehrere Formeln, mit denen man aus der Länge jedes »langen« Knochens - das heißt jedes Knochens aus den Armen (Oberarm, Elle oder Speiche) oder den Beinen (Oberschenkel, Schienbein oder Wadenbein) - die Körpergröße ableiten konnte. Die besten Ergebnisse erhält man dabei, wenn man die Messung am Oberschenkelknochen vornimmt; das war wahrscheinlich der Grund, warum die Polizei mir ausgerechnet einen Oberschenkel gebracht hatte.
Ich legte den Knochen auf ein osteometrisches Brett - eine bewegliche Apparatur, die an zwei durch eine Messskala verbundene Buchstützen erinnert - und ermittelte eine Länge von 47,2 Zentimetern. Diese Zahl setzte ich in die Formel von Trotter und Gleser für negroide Frauen ein: (47,2 x 2,28)+ 59,76. Das Ergebnis, 167,38, war die Körpergröße in Zentimetern. Die Umrechnung in amerikanische Maßeinheiten ergab eine Größe von fünf Fuß und sechs Inch plus oder minus ein Inch.
Jetzt kannte ich alle vier Eigenschaften. Geschlecht: weiblich; Rasse: Farbige; Alter: 30 bis 34; Körpergröße: 167 Zentimeter. Die nächste Frage definitiv zu beantworten war schwieriger: Wer war sie? Wenn man einen Schädel mit vollständigem Gebiss vor sich hat, bestehen normalerweise gute Chancen, die Person eindeutig zu identifizieren. Dazu muss man vorhandene zahnärztliche Röntgenaufnahmen mit Zahnfüllungen, Zahnbrücken und anderen einzigartigen Merkmalen in Form, Aufbau und Anordnung der Zähne bei der Leiche vergleichen. Das setzt natürlich voraus, dass man über die zahnärztlichen Unterlagen vermisster Personen verfügt, die in Alter, Geschlecht und Rasse dem Opfer entsprechen. Sie zu beschaffen ist nicht immer möglich, aber erstaunlicherweise findet sich sehr oft tatsächlich ein Zahnarzt, der die notwendigen Unterlagen für eine Identifizierung liefern kann.
In diesem Fall war es jedoch problematischer. An den Zähnen der Frau waren keinerlei Spuren zahnärztlicher Tätigkeit zu erkennen. Dabei hätte
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