Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Anthropologen, Mordsachverständiger, Kriminaltechniker und Mediziner geholfen.
Der Mord an Mary Louise bleibt wahrscheinlich für immer ungeklärt. Aber andere Mordfälle werden - und wurden wahrscheinlich schon - mit ihrer Hilfe gelöst. In meinen Augen macht sie das zu einer bemerkenswerten Frau und zu einer Heldin der Gerichtsmedizin.
Zu einer Heldin bis auf die Knochen.
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Der böse Onkel
A n einem Dezembertag des Jahres 1970 stand plötzlich ein Polizeibeamter in der Tür meines Büros am Museum of Natural History der University of Kansas in Lawrence. Ein halbes Jahr später hätte er mich dort nicht mehr angetroffen. Ich hatte bereits eine neue Stelle an der University of Tennessee in Knoxville angenommen, und im kommenden Mai wollten wir umziehen.
Der Polizist fand mich an dem Schreibtisch, an dem ich während der letzten zehn Jahre den Herbst, den Winter und das Frühjahr verbracht hatte. In dieser Zeit hatte die University of Kansas einen der besten Studiengänge für physische Anthropologie im ganzen Land aufgebaut. Zum Lehrkörper gehörten drei junge, kreative Wissenschaftler, und unsere gerichtsmedizinischen Fachkenntnisse waren mittlerweile allgemein bekannt. Ich hatte im Auftrag verschiedener Polizeibehörden bereits an Dutzenden von forensischen Fällen mitgearbeitet; das Spektrum der Auftraggeber reichte von kleinen lokalen Polizeistationen bis zur Kriminalpolizei des Staates Kansas, mit deren stellvertretendem Direktor Harold Nye mich inzwischen eine enge Freundschaft verband.
Harold war damals in Polizeikreisen zu einer Art Berühmtheit geworden. Er spielte die Schlüsselrolle bei der Fahndung nach zwei Verurteilten, die 1959 im Westen von Kansas eine ganze Familie ermordet hatten. Der Fall - die Ermordung der Familie Clutter und die Verfolgung der Mörder durch die Staatspolizei von Kansas - wurde zur Vorlage für den Krimiklassiker Kaltblütig von Truman Capote, der 1965 erstmals erschien.
Capote berichtet, wie Nye mit einer hartnäckigen Grippeinfektion zu kämpfen hatte, während er sechs Wochen lang die Mörder und ehemaligen Häftlinge Dick Hickock und Perry Smith verfolgte. Trotz hohen Fiebers arbeitete Harold unermüdlich in dem Team der vier Polizisten mit, die mit der Aufklärung des Falls befasst waren. Er verfolgte die Spur von Perry Smith bis zu einer billigen Pension in Las Vegas, wo dieser kurz vor den Morden übernachtet hatte; und was noch wichtiger war: Von der Wirtin erfuhr er, dass Smith zurückkommen wollte, um eine dort abgestellte Kiste mit seinen Habseligkeiten abzuholen. In Mexico City - einem der vielen Orte, an denen sich die Mörder nach der Tat aufgehalten hatten - fand Harold ein Fernglas und ein Kofferradio, die sie aus dem Haus der Familie Clutter gestohlen und für ein paar Dollar bei einem Pfandleiher versetzt hatten. Die Gegenstände wurden in dem Prozess zu wichtigen Beweisstücken, denn sie belegten, dass die Männer in dem Haus gewesen waren.
Am Tatort selbst konnte Harold ein weiteres wichtiges Indiz sichern: Seine Fotos zeigten auf dem Kellerboden des Hauses zwei charakteristische Reihen von Schuhabdrücken, die so schwach waren, dass sie dem bloßen Auge nicht auffielen. Als die Mörder festgenommen wurden, passten ihre Schuhe genau zu den Spuren. Mit ihrer peniblen Aufklärungsarbeit trugen Harold und die anderen Polizisten dazu bei, dass die beiden Männer schließlich des Mordes für schuldig befunden und gehängt wurden.
Von der Beschreibung des Falles durch Capote hielt Harold nicht besonders viel; nach seiner Ansicht war der Autor mit den Tatsachen viel zu leichtfertig umgegangen. Auch persönlich mochte er Capote nicht: Als Harold zu einem Interview in das Hotelzimmer des Schriftstellers ging, öffnete ihm dieser in einem spitzenbesetzten Nachthemd die Tür. Das muss dem geradlinigen Harold einen ziemlichen Schock versetzt haben, aber er behielt es für sich; erst Jahre später erzählte er die Geschichte dem Schriftsteller George Plimpton, der eine Biografie über Capote verfasste.
Was wir beide damals noch nicht wussten: Harold sollte später wichtige Anregungen für die Einrichtung der Body Farm liefern. Schon im Frühjahr 1964 hatte er mir in einem Telefongespräch eine ungewöhnliche Frage gestellt: Ob ich ein Skelett untersuchen und dann die Zeit seit dem Tod abschätzen könne? Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Skelett um eine Kuh; Rinderdiebe oder Vandalen lassen manchmal tote, verstümmelte Tiere in der Prärie
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