Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
zurück. Und da es in Kansas mehr Kühe als Menschen gibt, muss die Kriminalpolizei viel Arbeit in die Aufklärung von Viehdiebstählen investieren. In diesem Fall hatten die Diebe die Kühe nicht mitgenommen, sondern sofort getötet und an Ort und Stelle zerlegt; dann hatten sie sich mit dem Fleisch davongemacht und die Knochen zurückgelassen.
Wenige Tage nach unserem Gespräch und einer Rückfrage beim Paläontologen der Universität schrieb ich Harold in einem Brief: »Wir kennen keine Methode, mit der man den Todeszeitpunkt der Kuh ermitteln könnte. Über das Alter des Tieres bei seinem Tod kann ich eine Aussage machen, aber ich kann nichts darüber sagen, wie viel Zeit seit seinem Tod verstrichen ist.«
Aber seine Anfrage hatte mich nachdenklich gemacht. Ich hatte eine Idee. In dem Brief fuhr ich fort:
Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, gibt es nach unserer Kenntnis in dieser Frage bisher keinerlei Forschungsarbeiten. Wenn Sie einen Bauern kennen, der sich dafür interessiert und bereit wäre, eine Kuh zu töten und liegen zu lassen, könnten wir ein Experiment machen und feststellen, nach welcher Zeit das Fleisch zu verwesen beginnt. Damit könnten wir auf diesem Gebiet gewisse Erkenntnisse gewinnen. Die Verwesungsgeschwindigkeit < ist aber im Sommer nicht die gleiche wie im Winter, und ich fürchte, wir müssten mindestens zwei Kühe opfern, um vollständige Daten zusammenzutragen …
Harold griff meinen Vorschlag nie auf; für ihn war es vermutlich die wissenschaftliche Entsprechung zu einem Truman Capote, der im Damennachthemd die Tür öffnet - vielleicht war die Idee für seinen Geschmack einfach zu ungewöhnlich. Aber auch mich drängte es nicht, die Sache weiter zu verfolgen. Ich hatte sie sogar fast 40 Jahre lang völlig vergessen; erst vor kurzem fiel mir der Brief in einem staubigen Aktenschrank wieder in die Hände, wo er sich hinter einer brüchigen alten Röntgenaufnahme versteckt hatte.
Aber auch wenn ich diese kleine wissenschaftliche Idee abgelegt und vergessen hatte, war damit ein Keim gelegt worden - ein Keim, der 15 Jahre später aufgehen und Früchte tragen sollte. Und diese Früchte erwuchsen nicht aus Kühen, sondern aus menschlichen Leichen: aus den Leichen der Body Farm.
Aber ich greife vor. Die Body Farm lag noch weit in der Zukunft; wir schrieben den Dezember 1970, und ein Polizist aus der nahe gelegenen Kleinstadt Olathe, 40 Kilometer südöstlich von Lawrence, kam in mein Büro. Er hatte eine Asservatenkiste aus Pappe bei sich. Darin lag eine kleine, traurige Ansammlung von Skelettresten. Ich konnte auf den ersten Blick sagen, dass es sich um die Knochen eines Kleinkindes handelte, das vermutlich nicht älter als zwei oder drei Jahre war. Wie der Beamte Jerry Foote mir berichtete, hatten Wachteljäger sie eine Woche zuvor draußen in der Prärie gefunden. Die meisten Knochen fehlten - nach meiner Vermutung hatten Tiere sie verstreut oder aufgefressen; zum Glück war der Schädel noch relativ vollständig, nur die meisten Zähne waren nicht mehr vorhanden.
Ich nahm in meinem Büro sofort eine erste Untersuchung vor und erklärte dem Detective Foote, was ich dabei beobachtete. Ich hatte schon frühzeitig gemerkt, dass die meisten Polizisten sehr eifrig darauf aus sind, möglichst viel über Ermittlungsmethoden zu lernen; sie hören sich gern an, was ich bei der Untersuchung einer Leiche oder eines Skeletts zu sagen habe, selbst wenn sich diese Untersuchung noch im Anfangsstadium befindet.
In diesem Fall fiel mir auf, wie verwittert der kleine Schädel war: Er musste schon seit Monaten im Freien gelegen haben. Außerdem sah ich, dass die linke Seite ausgebleicht und fast weiß war; vermutlich hatte er also auf der rechten Seite gelegen, sodass die linke ungeschützt der Sonne und dem Regen ausgesetzt war. Auf der rechten Seite klebten ein paar feine blonde Haare an der Stirn, einige weitere fand ich an der Schädelbasis und an den Halswirbeln. Das Haar bestätigte, was ich schon auf Grund der Schädelform vermutet hatte: Es handelte sich wahrscheinlich um ein weißes Kind.
Die Zähne waren zum größten Teil ausgefallen, aber wie man deutlich erkannte, war das Gebiss fast vollständig gewesen, einschließlich der ersten Molaren, die sich sogar noch an ihrem Platz befanden; demnach war das Kind wahrscheinlich mindestens 24 Monate alt gewesen. Die Wurzeln der Eckzähne waren jedoch noch nicht vollständig ausgebildet, das heißt, sein Alter lag unter 36 Monaten.
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