Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Fall nachzudenken.
Am Nachmittag des 17. Juni kam ich an, müde von der zwölfstündigen Fahrt und nervös wegen meiner bevorstehenden Aussage. Ich sah meine Berichte noch einmal durch und übte im Geist, die wissenschaftlichen Befunde in einer Sprache zu erklären, mit der ich eine Jury von Laien aus Kansas nicht verschrecken würde.
Am nächsten Morgen wurde ich genau nach Zeitplan vereidigt. Mark Bennett führte mich mit seinen Fragen durch meine Befunde, streifte kurz die verschiedenen Methoden zur Altersbestimmung und konzentrierte sich dann auf den Spalt zwischen den Vorderzähnen sowie auf die Kerben in den Schneidezähnen, die genau mit dem Foto von Lisa übereinstimmten.
Zu meiner großen Erleichterung stellte der Verteidiger meine Identifizierung von Lisas Leiche nicht in Frage. Wie ich es erwartet hatte, ging er auf mehrere offenkundige Schwachpunkte in der Argumentation der Anklage ein. Ob ich die Todesursache feststellen könne? Nein, das konnte ich nicht. Ob es Anzeichen für Gewalteinwirkung oder Verletzungen gebe? Nein, die gab es nicht. Ob ich behaupten könne, Lisa sei vergewaltigt worden? Nein, das konnte ich nicht. Ich wusste, wer sie war, ich wusste, dass sie lange in dem Bach gelegen hatte, ich wusste, dass es eine menschliche Tragödie und eine große Schande war, aber das war auch alles.
Der Prozess dauerte eine Woche. Als er zu Ende ging, war ich bereits wieder in Knoxville, packte Umzugskartons aus und bemühte mich verzweifelt, Büromöbel aufzutreiben. Mark Bennett schickte mir den Artikel von der Titelseite des Kansas City Star : SILVERS UND DER MORD AN DER NICHTE: FREISPRUCH. Die Verteidigung hatte die Glaubwürdigkeit der beiden Häftlinge ins Wanken gebracht, nach deren Aussage Gerald die Vergewaltigung und den Mord an Lisa zugegeben hatte. Wie Zeugen der Verteidigung bestätigten, waren beide Männer homosexuell.
Earl Silvers, Lisas Vater, lobte Geralds Anwalt nach dem Prozess in den höchsten Tönen. »Er war sehr gut«, sagte Earl dem Reporter einer Lokalzeitung. »Er hat ununterbrochen gearbeitet, sieben Tage in der Woche, und immer bis neun oder zehn Uhr abends.« Charles Silvers, der Großvater des Mädchens, gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Gerald nach Hause kommen werde, wenn er seine Gefängnisstrafe abgesessen hatte. »Kalifornien ist nicht die richtige Gegend, wenn man ein neues Leben anfangen will«, sagte er.
Kurz nach dem Prozess wurden Lisas sterbliche Überreste beigesetzt. Hätte sie weitergelebt, wäre sie heute Mitte 30 und hätte vielleicht selbst ein Kind. Vielleicht ein Mädchen mit dünnen blonden Haaren, einer kleinen Zahnlücke und vier charakteristisch eingekerbten Zähnen inmitten eines breiten, fröhlichen Lächelns.
5
Der Fall mit der kopflosen Leiche
E s muss ein Tag mit dünner Nachrichtenlage gewesen sein; anders ist das plötzliche Medieninteresse für meine geringfügige Fehlkalkulation nicht zu erklären.
Eigentlich waren es sogar mehrere ruhige Wochen, zumindest am Anfang. Alles begann in Knoxville an jenen stets trägen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Die Universität hatte Weihnachtsferien, und meine Studenten waren größtenteils nach Hause zu ihren Familien gefahren. Charlie, mein ältester Sohn und damals 21 Jahre alt, war für die Feiertage nach Tennessee gekommen; er studierte an der University of Arizona und steckte gerade im ersten Jahr seiner Doktorarbeit in - wie könnte es anders sein? - Anthropologie mit Schwerpunkt Gerichtsmedizin. (Es war, noch bevor er zu der Erkenntnis gelangte, dass er sich nicht sein ganzes Leben lang mit einem Professorengehalt zufrieden geben wollte.)
Am Donnerstag, dem 29. Dezember 1977, erhielt ich spät nachmittags einen Anruf von der Polizei des Kreises Williamson. Da ich der amtliche forensische Anthropologe des Staates Tennessee und offizieller Berater der staatlichen Kriminalpolizei war, hatten alle Gesetzeshüter in dem gesamten Bundesstaat meine Telefonnummer. Entsprechend konnte das Telefon zu jeder Tages- oder Nachtzeit klingeln, und je weniger mir der Zeitpunkt passte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mich zur Untersuchung einer Leiche brauchte.
Dieses Mal war Detective Captain Jeff Long am Apparat. Er rief aus Franklin an, einer Kleinstadt etwa 50 Kilometer südlich von Nashville. Franklin war zu jener Zeit mit wenigen tausend Einwohnern ein kleiner Ort, aber zahlreiche Countrymusic-Stars und Ärzte aus Nashville besaßen dort Pferdeställe oder
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