Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
entstanden sein, weil eine Spitzhacke oder Schaufel auf das brüchige Metall getroffen war. Als dann die durchwühlte, feuchte Erde rund um das hastig verscharrte Mordopfer zur Ruhe kam, waren das Becken und der untere Teil der Wirbelsäule durch die Öffnung in den alten Sarg gesunken. Deshalb hatte ich es nun schwer, die Überreste wieder herauszuholen.
Die vorsichtig freigelegten Körperteile und Kleidungsstücke reichte ich nach oben zu Charlie, der sie in anatomischer Anordnung auf das Brett legte. Als ich alle auffindbaren Stücke geborgen hatte, steckte er die Teile in Asservatenbeutel und beschriftete sie. Außer der Leiche fand ich zwei Zigarettenstummel, die Charlie ebenfalls in Tüten fallen ließ.
Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder festgestellt, dass Mörder am Tatort häufig stark rauchen. In einem Fall - es ging um den Besitzer einer Werkstatt zum Zerlegen gestohlener Autos, der einen Spitzel mit einem Jagdgewehr erschoss - fand ich an der Stelle, wo der Mörder stundenlang im Hinterhalt gelegen hatte, einen ganzen Berg von Zigarillo-Resten. Die Stummel hatten Kunststoffspitzen, und er hatte mit solcher Kraft darauf gebissen, das seine Zähne deutliche Spuren hinterlassen hatten; diese Spuren konnte ich später glücklicherweise mit einem Abdruck, den wir von seinen Zähnen gemacht hatten, zur Übereinstimmung bringen. Unter den gegebenen Umständen ist es vermutlich nicht verwunderlich, dass jemand stark raucht - ein Mörder steht meist unter großer Anspannung, und Rauchen ist ein Ausdruck von Nervosität -, aber es ist auch nicht besonders klug, denn selbst Zigarettenstummel aus Papier können Fingerabdrücke aufnehmen, und aus Speichelresten kann man DNA gewinnen - Indizien, die einen Mörder in die Todeszelle bringen können. (Eine Anmerkung für die Raucher: Auch das ist ein Weg, wie man sich durch Rauchen ins Jenseits befördern kann.)
Als ich die Leiche zum größten Teil geborgen hatte, war das Loch so tief, dass man den Sarg aus dem Bürgerkrieg sehen konnte. Ich bat einen Polizeibeamten, mir seine Taschenlampe zu leihen, wies Charlie und den Polizisten an, meine Fußgelenke festzuhalten, und hängte mich kopfüber in die Grube, sodass ich durch das Loch im Sargdeckel blicken konnte. Eigentlich gab es nichts zu sehen - am Boden des Sarges lag nur eine dünne Schmutzschicht -, aber ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass nach über einem Jahrhundert noch sonderlich viel übrig war. Einige Jahre zuvor hatte ich einen Friedhof aus der gleichen Zeit - Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts - ausgegraben. Er bestand aus fast 20 Gräbern, aber die Knochenbruchstücke, die ich auf dem gesamten Friedhof bergen konnte, passten ohne weiteres in eine hohle Hand: Sie waren in der feuchten Erde von Tennessee fast vollständig zerfallen. Angesichts meiner Kenntnisse über Grabstätten aus der Zeit des Bürgerkrieges wäre ich sehr erstaunt gewesen, wenn ich im Licht meiner Taschenlampe die Knochen von Colonel Shy gesehen hätte. Mit einem Ächzen und viel Kraft hievten Charlie und der Polizist mich wieder aus dem Grab.
Mittlerweile waren Charlie und ich durchnässt und bis auf die Knochen durchgefroren. Wir zogen unsere schmutzigen Overalls aus und legten sie zusammen mit den Leichenteilen und Kleidungsstücken, die wir von der Leiche entfernt und getrennt in Tüten gesteckt hatten, in den Kofferraum unseres Mustang. Bevor wir zurück nach Knoxville fuhren, mussten wir noch einen kurzen Umweg zum staatlichen kriminaltechnischen Labor in der Nähe von Nashville machen, wo Polizeiexperten an den Kleidungsstücken und Zigarettenstummeln nach Anhaltspunkten für die Identität von Mörder und Opfer suchen würden.
Als wir in das Labor kamen, war es schon spät und kurz vor Feierabend. Die Kleidungsstücke waren nass und stanken, sodass uns das Personal nicht gerade mit offenen Armen empfing. Damit der Geruch sich nicht im ganzen Labor verbreitete, entschloss man sich schließlich, die Kleidungsstücke zum Trocknen und Lüften in einer beheizten Garage aufzuhängen.
Charlie und ich kamen an jenem Freitag spätabends wieder nach Knoxville. Ich fuhr in die Garage - sie war glücklicherweise nicht angebaut, sodass wir die Leiche nicht riechen würden - und wir gingen ins Haus, um zu duschen, zu schlafen und uns am Wochenende die Spiele der College-Footballmeisterschaft anzusehen. Wer das draußen im Mustang auch sein mochte, er würde sicher nirgendwo hingehen wollen - schließlich hatte ich die
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