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Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Titel: Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bass Jon Jefferson
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Selbst wenn ich die Augen schloss, sah ich immer noch ihre Umrisse. Und obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ich aus wissenschaftlicher Sicht wirklich jeden Stein umgedreht hatte, starrte ich sie immer noch an, drehte und wendete sie zwischen meinen Fingern und im Geist. Sie hatten irgendetwas an sich, aber ich kam einfach nicht darauf. Vielleicht betrachtete ich sie zu sehr aus der Nähe. Wer schon einmal Astronomie betrieben hat, der weiß, dass man am Rand des Gesichtsfelds oft schwächeres Licht wahrnimmt als in der Mitte. Wenn man einen schwach leuchtenden Stern ausfindig machen will, muss man deshalb immer ein wenig neben die Stelle blicken, an der man ihn vermutet.
    In diesem Fall musste ich keine Blicke irgendwie anders einstellen, um das zu sehen, was ich auf geradem Wege nicht wahrnehmen konnte. Also trat ich einen Schritt zurück; statt die Zähne einzeln zu untersuchen, steckte ich sie in ihre Höhlen im Kieferknochen und ließ den Blick zwischen dem Schädel und dem Foto der lebenden, lächelnden Lisa Silvers hin und her wandern. Erstens befand sich zwischen den beiden mittleren oberen Schneidezähnen - den »Vorderzähnen«, wie sie im Volksmund genant werden - eine kleine Lücke. Ich bemerkte sie sowohl als ich die Zähne in ihre Höhlen steckte, als auch beim Betrachten des Fotos.
    Zweitens - und das war jetzt, wo die Zähne sich an ihrem Platz befanden, noch viel auffälliger - hatte jeder der vier oberen Schneidezähne an einer Ecke eine kleine Kerbe. Die Zähne waren nicht abgebrochen, sondern hatten sich so entwickelt. Es war eine genetische Besonderheit, und die bildete möglicherweise den Schlüssel zur Identifizierung der Leiche. Als ich den Blick wieder auf das Foto richtete, spürte ich ein erregtes Kribbeln. Ich rief Detective Foote an und sagte: »Wir haben Lisa Silvers eindeutig identifiziert.«
    Das war im April. In den beiden folgenden Monaten floss eine Menge Wasser die verschiedensten Flüsse hinunter.
    Für mich bestand die größte Veränderung in unserem Umzug nach Tennessee, der Ende Mai stattfand. Meine Jahre in Kansas waren eine Zeit ungeheurer Weiterentwicklung gewesen. Die sommerliche Freilandarbeit war anstrengend, aber auch spannend; die Zeit an der Universität brachte doppelte Freude durch die forensischen Untersuchungen für verschiedene Polizeibehörden und den täglichen Reiz der akademischen Lehre. Sobald ich vor einer Menschengruppe stehe - ob Erstsemester, ein Seminar für Doktoranden der Anthropologie, eine Ausbildungsklasse des FBI oder eine Versammlung älterer Mitbürger -, kommt es mir vor, als würde in meinem Inneren ein Schalter umgelegt, der einen gewaltigen Adrenalinschub auslöst. Ich mache alberne Verrenkungen, um zu demonstrieren, wie unser Skelett funktioniert; oder ich erzähle Witze, meist ein wenig zweideutige, die mir mindestens einmal pro Semester wieder um die Ohren gehauen werden. Aber die große Mehrheit meiner Studenten kannte und schätzte offenbar meinen Unterrichtsstil; meine Vorlesung »Einführung in die Anthropologie« zog in Kansas jeden Herbst über 1000 Studenten an - es waren so viele, dass der Dekan die Veranstaltung von einem Hörsaal in das Auditorium maximum der Universität verlegen musste.
    Aber unter der Oberfläche herrschten im Institut für Anthropologie tief greifende Meinungsverschiedenheiten. Als ich 1960 nach Kansas gekommen war, war die Anthropologie ausschließlich durch Archäologen und Kulturanthropologen vertreten. Dann wurden in rascher Folge drei physische Anthropologen eingestellt. Wir drei erwarben uns mit unseren forensischen Arbeiten schon bald im ganzen Land einen guten Ruf - und wir unterrichteten auch die Mehrzahl der Studenten, die anthropologische Lehrveranstaltungen belegten.
    Gleichzeitig wuchs bei den Kulturanthropologen die Abneigung gegen uns. Die Spannungen nahmen so stark zu, dass alle drei physischen Anthropologen sich nach anderen Stellen umsahen.
    Ich wechselte als Erster die Pferde. Die University of Tennessee wollte einen landesweit anerkannten Studiengang für Anthropologie aufbauen, genau das, womit wir in Kansas gerade begonnen hatten. Als man mir die Gelegenheit bot, das Programm zu leiten - wobei ich gleichzeitig die Chance hatte, zwei Kollegen meiner Wahl einzustellen -, konnte ich unmöglich ablehnen.
    Innerhalb eines Jahres hatten auch die beiden anderen physischen Anthropologen sich in bessere Weidegründe oder doch zumindest in ein kollegialeres Umfeld begeben, und Kansas hatte

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