Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
hatten, hielt er für unwahrscheinlich. Ich selbst hatte in meiner Berufslaufbahn bereits mehrere tausend Skelette ausgegraben und war recht geübt darin, Knochen und Zähne einzusammeln. Die Knochen hatten zwar meist aus unberührten Indianergräbern gestammt, in einer nicht unbeträchtlichen Minderheit der Fälle jedoch - insgesamt mindestens 700-mal - waren sie weit verstreut, weil Tiere, Unwetter, Erosion oder Menschen sie über ein großes Gebiet verteilt hatten. Meist folgte ihre Verteilung dabei einem bestimmten Muster, und ich hoffte, dies könne auch hier der Fall sein. »Die Zähne werden da sein, wo auch die Leiche gefunden wurde«, sagte ich. »Gehen wir also hin, dann finden wir sie auch.«
Mittlerweile war es Mitte April. Fünf Monate waren vergangen, seit die Wachteljäger in dem Bachlauf über den kleinen Schädel gestolpert waren. Als wir mit dem Auto über die Prärie holperten und am Bachufer anhielten, hoffte ich nur, dass hier seit dem Herbst niemand mehr das Bachbett aufgewühlt hatte. Wäre eine Kuhherde in dem Schlamm herumgestampft, hätte praktisch keine Aussicht mehr bestanden, irgendetwas zu finden. Glücklicherweise gab es keinerlei Spuren von Rindern. Außerdem war es ein recht warmer, trockener Frühling, sodass der Bach nur ein paar Zentimeter tief war. Allmählich kehrte mein Optimismus wieder.
Man braucht kein wissenschaftliches Genie zu sein, um sich klar zu machen, dass Knochen in einem Bach normalerweise stromabwärts gespült werden. Die Frage ist nur, wie weit stromabwärts. Kleinere, leichtere Knochen legen in der Regel eine größere Strecke zurück als der Schädel oder die langen Knochen von Armen und Beinen. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht: Je weiter das Wasser einen Knochen trägt, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass er rechts oder links am Ufer angespült wird. Schematisch wiedergegeben, sieht das Verteilungsmuster aus wie ein lang gezogener Tropfen, dessen Spitze am weitesten stromaufwärts liegt. Je größer der Wasserlauf ist und je schneller er fließt, desto länger ist der tropfenförmige Bereich.
Von der Stelle, wo man den Schädel und die meisten Knochen gefunden hatte, ging ich ungefähr 15 Meter bachabwärts, um mich dann gegen die Strömung wieder langsam vorzuarbeiten. Da ich auf diese Weise außerhalb des voraussichtlichen Streubereiches anfing, bestand eine geringere Gefahr, dass ich auf einen Knochen trat und ihn zerbrach oder noch tiefer in den Schlamm drückte. Außerdem wurde der Schlamm, den ich im Bachbett beim Gehen und Wühlen aufwirbelte, entgegen meiner Gehrichtung weggespült. Wenn man so darüber nachdenkt, ist es ganz einfach, aber ungeübte Fahnder suchen erstaunlich oft nach dem Zufallsprinzip und wirbeln in einem mehrfachen Sinn eine Menge Schlamm auf.
Etwa zehn Meter stromabwärts vom Fundort des Schädels spürte ich im Schlick kleine Kieselsteine. Nur waren es keine Kieselsteine, sondern winzige Knochen - Handknochen, Fußknochen und Wirbel. Außerdem fanden wir insgesamt 14 Zähne; nur zwei untere Schneidezähne blieben verschwunden. Es war ein Gefühl, als wäre ich auf eine Goldader gestoßen. Auf dem Rückweg zu meinem Büro in Lawrence war ich voller Hoffnung, dass ich an diesen Knochen und Zähnen irgendetwas finden würde, das eindeutig sagte: »Ich bin - ich war - Lisa Silvers.«
In einem war ich mir sicher: Zumindest würde ich das Alter des Kindes anhand der Zähne genauer abschätzen können. Eine Gruppe von Zahnmedizinern hatte an der Harvard University ein sehr exaktes Schema für die Entwicklungsstadien der verschiedenen Milchzähne erstellt. Ich röntgte einen unteren Eckzahn, einen unteren ersten Molaren und einen unteren zweiten Molaren und verglich die Aufnahmen mit denen aus der Harvard-Studie. Damit gelangte ich zu einer Schätzung von 2,1 Jahren. Einer anderen Untersuchung zufolge ließ der erste untere Molare auf ein Alter von 2,9 bis 3,9 Jahren schließen, und nach einem dritten Schema lag das Alter zwischen 2,5 und drei Jahren.
Letztlich geht es in der forensischen Zahnkunde natürlich immer um die Frage, ob man zahnmedizinische Arbeiten findet, die mit vorhandenen Patientenunterlagen übereinstimmen. Leider war Lisa noch nie beim Zahnarzt gewesen, und deshalb gab es solche Daten in diesem Fall nicht. Aber da kein einziger Zahn eine Füllung hatte, konnten wir auch nicht ausschließen, dass es sich um Lisa handelte.
Als es so weit war, starrte ich stundenlang die Zähne an.
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