Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Wäldern von Tennessee - Prärien gibt es östlich des Mississippi kaum - sorgen dafür, dass das Fleisch der Leichen weich bleibt und zu einer leichten Beute für die Maden wird. In Tennessee lernte ich sehr schnell, dass man Leichensäcke am besten im Freien und auf dem Boden öffnet, damit das Leichenschauhaus nicht von Maden und Fliegen überschwemmt wird.
Zu Fliegen hatte ich schon als Kind eine eigenartige, symbiotische Beziehung. Kurz nach dem Tod meines Vaters zog meine Mutter mit mir zu ihren Eltern. Wir wohnten auf einer Farm, und wo es Vieh gibt, sind auch Fliegen nicht weit. Meine Mutter ekelte sich vor den Insekten und bot mir ein Geschäft an: Für jeweils zehn tote Fliegen, die ich ihr brachte, bekam ich eine Belohnung von einem Cent.
Solchermaßen beflügelt, wurde ich mit meinen sechs Jahren zum routinierten Fliegenmörder. Wenn mein Großvater vom Melken kam, fiel mir auf, wie die Fliegen sich auf jedem Milchtropfen sammelten, der aus seinem Eimer spritzte. Klatsch - sieben auf einen Streich! Wenig später hatte ich gelernt, meine Großmutter um ein Glas Milch anzubetteln, sodass ich nicht mehr auf die Melkzeit oder die von Opa vergossene Milch warten musste. Die Fliegenleichen türmten sich, und ebenso türmten sich meine Cents.
Seither jedoch habe ich Fliegen immer verabscheut - auch, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, in wissenschaftlicher Hinsicht. Noch mehr hasse ich Klapperschlangen, aber die kommen bei weitem nicht so häufig vor, sind viel scheuer und viel leichter zu töten. Wie ich in South Dakota lernte, braucht man zum Köpfen einer Prärieklapperschlange nur eine messerscharfe Schaufel und eine ruhige Hand. Fliegen dagegen sind gnadenlos, und es gibt sie in fast unendlicher Zahl. Legt man an einem Sommertag eine frische, blutige Leiche auf die Erde, wimmelt es in der Luft schon nach wenigen Minuten von Schmeißfliegen. Schwingt man die Schaufel wie eine riesige Fliegenklatsche, erwischt man vielleicht ein paar von ihnen im Flug, aber in der Zeit, die man dazu braucht, haben sie bereits wieder dutzendweise Verstärkung bekommen.
Und dennoch: Als ich den Fliegenschwarm sah, wusste ich, dass wir von ihnen und den anderen Insekten mit Sicherheit etwas lernen konnten. Auf irgendeine Weise konnten sie uns zu neuen Erkenntnissen verhelfen, insbesondere was die Zeit seit dem Tod anging.
Ich war keineswegs der erste Wissenschaftler, dem auffiel, wie schnell Fliegen den Hauch des Todes in die Nase bekommen, wie unfehlbar sie vom Duft des Blutes angezogen werden. Der chinesische Gelehrte Sung Tz’u berichtete schon 1247 in seinem bahnbrechenden gerichtsmedizinischen Werk Vom Hinwegwaschen des Ungerechten über einen Mordfall:
Es gab eine gerichtliche Untersuchung wegen der Leiche eines Mannes, welche am Straßenrand gefunden wurde...Der Untersuchungsbeamte machte sich mit der Umgebung des Opfers vertraut. Daraufhin entsandte er getrennt mehrere Männer, damit sie Aufrufe verkündeten. Die nächsten Nachbarn sollten ihm alle ihre Sicheln bringen und zur Untersuchung aushändigen. Wer eine Sichel versteckte, würde als Mörder betrachtet und gründlich untersucht werden. In kurzer Zeit wurden 70 oder 80 Sicheln zu ihm gebracht. Der Untersuchungsbeamte ließ sie auf den Boden legen. Zu jener Zeit herrschte warmes Wetter. Die Fliegen flogen umher und sammelten sich auf einer Sichel. Der Untersuchungsbeamte deutete auf die Sichel und fragte: »Wem gehört die?« Sofort meldete sich ein Mann...Er wurde verhört, gestand aber nicht. Der Untersuchungsbeamte zeigte auf die Sichel und befahl dem Mann, sich selbst anzusehen. »Auf den Sicheln der anderen aus der Menge sind keine Fliegen. Du hast einen Menschen umgebracht. Auf deiner Sichel sind Blutspuren, deshalb sammeln sich dort die Fliegen. Wie kann dies verborgen bleiben?« Die Umstehenden waren sprachlos und seufzten vor Bewunderung. Daraufhin schlug der Mörder den Kopf gegen den Boden und gestand.
Sechs Jahrhunderte später, in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, untersuchte ein New Yorker Insektenkundler namens Murray G. Motter 150 Leichen, die man im Zuge der Verlegung eines Friedhofes exhumiert hatte. Er stellte fest, dass die Leichen zahlreiche Insektenarten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien beherbergten - Larven, Puppen und ausgewachsene Tiere. Am Ende war manchen Insekten gerade die Leiche, in der sie gewohnt hatten, zum Grab geworden - eine Ironie, die den Tieren selbst vermutlich nicht auffiel und nichts
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