Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
der Ort liegt auf dem Cumberland Plateau, etwa eine Autostunde von Knoxville entfernt. Dort holte ich unser erstes gespendetes Forschungsobjekt ab: die Leiche eines 73-jährigen weißen Mannes, der an chronischem Alkoholismus, Emphysemen und einer Herzkrankheit gelitten hatte. Seine Identität kannten wir - seine Tochter hatte die Leiche zur Verfügung gestellt -, aber aus Gründen der Vertraulichkeit teilten wir ihm eine eindeutige Identifizierungsnummer zu. Im Leben hatte er eine Familie und einen Namen gehabt; im Tod hieß er schlicht »1-81«: die erste Leiche, die dem Institut für Anthropologie im Jahr 1981 gestiftet worden war. (Meine gerichtsmedizinischen Fälle erhielten die gleichen Zahlenpaare, aber in umgekehrter Reihenfolge: Der erste Kriminalfall aus diesem Jahr trug die Bezeichnung 81-1. Es war kein besonders fantasievolles System, aber es erfüllte seinen Zweck.)
Am nächsten Morgen legte ich zusammen mit einer Hand voll Doktoranden die Leiche 1-81 auf die Betonfläche, die wir ein paar Monate zuvor gegossen hatten. Um 1-81 vor Nagetieren und anderen kleinen Räubern zu schützen, die sich durch den Zaun quetschen konnten, stellten wir ein mit feinem Maschendraht überzogenes Holzgestell über die Leiche. Einer nach dem anderen verließen wir das eingezäunte Areal. Ich schloss die Tür und hängte ein Vorhängeschloss an den Riegel. An meinem Ohr strich eine Fliege vorüber. Die anthropologische Forschungseinrichtung hatte mit ihrem ersten wissenschaftlichen Projekt begonnen. Der halbe Hektar für die Toten war in Betrieb. Die Body Farm war geboren.
8
Kleine Tiere für die Forschung
A n einem warmen, sonnigen Tag im Jahr 1981 lag die Leiche Nummer 1-81 halb verwest in meiner neu gegründeten anthropologischen Forschungseinrichtung. Fast hätte man sie vom anthropologischen Institut der University of Tennessee auf der anderen Seite des Flusses sogar sehen können. Bill Rodriguez und ich traten aus den Räumen unter dem Neyland Stadium ins Freie. Bill hatte ein Glasgefäß mit fünf Fliegen in der Hand, und jedes Insekt trug auf dem Rücken einen Farbklecks, leuchtend orange wie das Trikot eines Footballspielers der Universitätsmannschaft.
Als wir neben den Stufen in der Sonne standen, schraubte Bill das Gefäß auf. Wenige Sekunden später waren alle fünf Fliegen weg. Wir sahen einander an und grinsten. »Lass mich wissen, wie es weitergeht«, sagte ich.
Bill hatte gerade mit einer Untersuchung begonnen, die in der forensischen Forschung zu einer Revolution führen sollte, und der Bericht darüber wurde zu einem der meistzitierten anthropologischen Fachaufsätze aller Zeiten. Aber das wusste ich damals noch nicht. Mir war nur klar, dass wir über Leichen und Insekten noch viel lernen mussten.
Zehn Jahre zuvor, 1971, war ich nach Knoxville gezogen. Während der sechziger Jahre war ich als Dozent in Kansas tätig gewesen und hatte Indianergräber in South Dakota ausgegraben; wenn ich die uralten Indianerskelette mit den neuen Mordopfern zusammenzähle, die Lokalpolizisten und Beamte der Staatspolizei zu mir brachten, hatte ich annähernd 5000 Leichen gesehen, bevor ich nach Tennessee kam. Damals glaubte ich, ich hätte schon alles kennen gelernt. Aber damit hatte ich Unrecht.
Während des ersten Jahres in Knoxville brachten verschiedene Polizeidienststellen mir insgesamt rund ein Dutzend Leichen zur Untersuchung, und mindestens in der Hälfte dieser Fälle musste ich mich mit etwas auseinander setzen, worüber ich sehr wenig wusste: mit Maden.
Maden sind kleine, wurmähnliche Larven. Sie schlüpfen aus den Eiern, die Fliegen auf einer Leiche ablegen - gewöhnlich (aber nicht immer) handelt es sich dabei um die grün schillernden Insekten, die man als Schmeißfliegen bezeichnet. Unmittelbar nach dem Schlüpfen ist eine Made noch nicht einmal so groß wie ein Reiskorn. Im ausgewachsenen Zustand wird sie dann so groß und dick wie ein Stück Makkaroni. Um so weit heranzuwachsen, fressen die Maden verwesendes Fleisch. Jedenfalls tun sie das in Tennessee; in Kansas weniger.
Kansas hat ein relativ trockenes Klima, und deshalb mumifizieren Leichen sehr häufig: Sie trocknen aus und schrumpfen ein, bevor die Maden sie befallen können. In Tennessee fällt doppelt so viel Niederschlag, und zwischen den Schauern herrscht häufig hohe Luftfeuchtigkeit; im Sommer kann man fast einen Brokkoli im Dampf garen, einfach indem man ihn ins Freie stellt. Die Feuchtigkeit und der viele Schatten in den
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