Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Pflichten als Assistent gehörten eben auch profane Aufgaben wie das Fensterputzen.
»Ich brauche jemanden, der mich zu einem Fall begleitet«, sagte ich. »Willst du hier nicht später weitermachen?« Nur allzu gern willigte Bill ein.
Es war kalt und schneite. Eine Mannschaft von Straßenarbeitern, die neben der Landstraße den Abfall einsammelten, hatte eine teilweise mit Schlamm bedeckte Leiche gefunden. Der Schädel lag ungefähr drei Meter vom übrigen Körper entfernt; alle Teile waren bereits fast völlig skelettiert.
Ich stellte Bill die gleiche Frage wie allen Studenten in solchen Fällen: Was er von dem Schauplatz hielt? Er identifizierte den Schädel richtig als einen männlichen Weißen, und ebenso schnell stellte er fest, dass der Mann am Kopf eine Schusswunde hatte. Dann zeigte er auf eine weitere Verletzung, die anscheinend ebenfalls im Zusammenhang mit dem Tod entstanden war, und machte Bemerkungen über die flache Bestattungsgrube.
Die beiden letzten Aussagen waren zwar logisch, aber falsch. Die Spuren, die nach seiner Ansicht auf eine Verletzung ungefähr zum Todeszeitpunkt schließen ließen, waren in Wirklichkeit später entstanden: Es waren Zahnspuren von Nagetieren (vermutlich Ratten), die den Schädel weggeschleppt und Fleischbrocken davon abgebissen hatten. Was wie ein flaches Grab wirkte, war eine Illusion. Die Leiche lag in einem seichten Bachbett, das bei unserem Besuch trocken war; aber nach starken Regenfällen hatte das schlammige Wasser um den Körper herum und über ihm eine dünne Sandschicht aufgehäuft.
Der Schädel ließ noch mehrere andere interessante Anhaltspunkte erkennen. Die Lage der Einschussöffnung - unmittelbar hinter dem linken Ohr, wobei das Muster der Bruchlinien darauf schließen ließ, dass der Lauf der Waffe gegen den Schädel gedrückt wurde - kennzeichnete den Mord als eine Art Hinrichtung. Ein Jochbein war auf eine Art verformt, wie ich sie auch früher schon einige Male gesehen hatte. Es war gebrochen, vermutlich bei einer Kneipenschlägerei, und vermutlich durch einen Billardqueue; das wusste ich aus meinen Erfahrungen mit früheren Opfern, bei denen Verletzung und Heilung fast genau nach demselben Muster stattgefunden hatten. Die Zähne hatten mehrere Löcher und viele Kautabakflecken; der Mann stammte also ganz offensichtlich nicht gerade aus der Oberschicht.
Während wir gruben, fielen uns in den Resten und um sie herum zahlreiche Puppenhüllen auf. Daran konnte ich ablesen, dass er wie die Arikara-Indianer, deren Gräber mich zum ersten Mal zum Nachdenken über Insekten veranlasst hatten, bei warmem Wetter ums Leben gekommen war. Das Gleiche bestätigten auch Ranken und Wurzeln, die unter manchen Körperteilen hindurchgewachsen waren.
Die Polizei konnte diesen Mordfall nie aufklären, aber zumindest in einer Hinsicht nahm er ein glückliches Ende: Bill Rodriguez war nun endgültig der forensischen Forschung verfallen. An diesem kalten, verschneiten Tag hatte die Primatenforschung einen viel versprechenden Nachwuchswissenschaftler verloren. Wenig später half Bill, das Gelände der Body Farm zu roden, die Kiesfläche für die neue anthropologische Forschungseinrichtung zu ebnen und die Betonplatte zu gießen. Ein paar Monate später war er dabei, als wir unser erstes Forschungsobjekt auslegten, die Leiche Nummer 1-81. Mittlerweile hatte Bill sich auch für ein Thema seiner Doktorarbeit entschieden. H. B. Reed hatte die Insektenbesiedelung von Hundekadavern aufgezeichnet. Bill würde das Gleiche bei menschlichen Leichen tun, und beginnen sollte er mit 1-81.
Die Untersuchung mit den Insekten war alles andere als angenehm. Neben 1-81 hatten wir eine verweste Leiche aus dem Schweinestall herübergebracht, und während der nächsten Monate kamen noch mehrere weitere Leichen hinzu.
Bill legte die Leichen auf Drahtgestelle, sodass er die Insekten von unten beobachten und einsammeln konnte. Dann setzte er sich jeden Tag stundenlang auf einen Stuhl und sah zu, was sich abspielte.
Als Erstes beobachtete er bei allen vier Untersuchungsobjekten eine Fülle von Schmeißfliegen. Bei warmem Wetter zogen Leichen wie 1-81 innerhalb weniger Minuten Hunderte dieser Insekten an. Blut löste bei ihnen eine Fressorgie aus, wie Bill es sich nie hätte träumen lassen: Wenn er weniger als einen Meter von einer blutigen Leiche entfernt saß, war er selbst wenig später ebenfalls mit Fliegen bedeckt, die sich an allen Körperflüssigkeiten gütlich tun wollten und
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