Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
bedeutete.
Motter veröffentlichte ein Verzeichnis der gefundenen Insekten im Journal of the NewYork Entomology Society unter dem bemerkenswert ausführlichen Titel »A Contribution to the Study of the Fauna of the Grave: A Study of One Hundred and Fifty Disinternments, With Some Additional Experimental Observations« (»Ein Beitrag zur Untersuchung der Tierwelt in Gräbern: Untersuchung an 150 Exhumierungen nebst einiger zusätzlicher experimenteller Beobachtungen«). Seine Studie regte andere Insektenforscher nicht dazu an, in Motters makabre Fußstapfen zu treten, zumindest nicht mit Menschen als Untersuchungsobjekten. 60 Jahre später jedoch stellte ein weiterer Insektenforscher - dieses Mal durch einen seltsamen Zufall in Knoxville - eingehende Untersuchungen zur Tätigkeit von Insekten auf Hundekadavern an. Der Insektenkundler in Knoxville hieß H. B. Reed, und er interessierte sich nicht für eine forensische, sondern für eine ökologische Fragestellung: Wie verändert eine Leiche die Umwelt in dem kleinen Ökosystem, in dem sie verwest? Um das herauszufinden, legte Reed im Laufe eines Jahres die Kadaver von 45 Hunden aus, die man im örtlichen Tierheim eingeschläfert hatte. Bei warmem Wetter brachte er alle zwei Wochen einen neuen Kadaver ins Freie; in kühleren Phasen waren die Abstände größer.
Dabei machte Reed einige faszinierende Beobachtungen. Wie nicht anders zu erwarten, war die Gesamtzahl der Insekten auf, in und an den Kadavern im Sommer am größten; die Bestände mehrerer Arten erreichten ihren Höhepunkt aber bei kühlerem Wetter. Außerdem gab es im Wald zwar mehr Insekten, die Verwesung lief aber in offenem Gelände schneller ab - nach seiner Theorie wegen der höheren Temperaturen. Und was vielleicht am wichtigsten war: Reed hielt peinlich genau fest, welche Insektenarten - erwachsene Tiere und Larven - auf den Hundekadavern vorkamen.
Eine ähnliche Studie stellte der Insektenforscher Jerry Payne aus South Carolina in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit den Kadavern junger Schweine an. Sein wichtigster Beitrag bestand darin, dass er die Reihenfolge der Insektenbesiedelung genau festhielt. Er notierte sich, welche Arten den Aufmarsch der Insekten bestritten und wann das geschah.
Mir selbst war in den sechziger Jahren während meiner sommerlichen Aufenthalte in South Dakota ein interessantes Phänomen aufgefallen. In den Gräbern der Arikara-Indianer, die ich damals ausgrub, fand ich in manchen Fällen viele Puppenhüllen, harte, hohle Gehäuse, in denen die Maden sich einschließen, bevor sie sich in die erwachsenen Fliegen verwandeln; andere Gräber dagegen enthielten nur wenige oder überhaupt keine Puppenhüllen. Irgendwann dämmerte es mir: Im Winter werden die Fliegen von der Kälte am Boden festgehalten; sobald die Temperatur unter zehn Grad sinkt, fliegen sie nicht mehr. In den Arikara-Gräbern ohne Puppenhüllen lagen Tote, die in der kühleren Jahreszeit gestorben und bestattet worden waren. Für mich war es zu jener Zeit ein faszinierender Gedanke: Noch nach 200 Jahren konnten wir feststellen, zu welcher Jahreszeit ein Krieger der Arikara in der Schlacht ums Leben gekommen war. Als ich später die Body Farm einrichtete, war mir eines ganz klar: Falls ich bei einem Doktoranden das Interesse für die Tätigkeit der Insekten auf Leichen wecken konnte, würden wir vermutlich noch viel mehr ableiten können als nur die Jahreszeit, zu der die Person gestorben war.
Der ideale Doktorand für diese Aufgabe war Bill Rodriguez: Erstens war er bereit, sich damit zu befassen, und zweitens hatte er mehr Erfahrung mit Freilandforschung als die meisten anderen Studenten.
Bill hatte das Grundstudium in Anthropologie absolviert und im Nebenfach Zoologie belegt. Anthropologie hatte er ursprünglich studiert, weil er Primatenforschung betreiben wollte, und er war auch tatsächlich mit einem Wissenschaftlerteam nach Afrika gereist, um Laborschimpansen auszuwildern. Daneben hatte er aber auch meinen Kurs in Knochenkunde besucht und dabei gut abgeschnitten. Als ich nun eines Tages zu einem Kriminalfall fahren musste und einen Helfer suchte, der mich begleiten konnte, stieß ich als Erstes auf Bill. Er putzte gerade die Fenster in einem unserer Seminarräume; da wir unter den Betontribünen des Stadions untergebracht waren, regnete ständig viel Staub und Schmutz auf unsere Räumlichkeiten herab. Bill hatte eine Stelle als Lehrassistent - das klingt recht hochgestochen, aber zu seinen
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