Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
veraltete Zahlen, liegt man mit der Schätzung unter Umständen um etliche Zentimeter daneben. Dann sucht die Polizei vielleicht nicht nach einem Vermissten von 1,80 Meter Größe, sondern nach einem von 1,73 Metern. Die Daten von 1-81 sollten dazu beitragen, derartige Fehler zu vermeiden.
Auch auf andere Weise sollte 1-81 uns noch jahrelang nützlich sein: als Hilfsmittel für die Lehre. Größe, Form und Konsistenz jedes Knochens im menschlichen Körper kennen zu lernen ist für Studenten der Anthropologie eine gewaltige Aufgabe. Es gibt dazu nur einen Weg: Man muss endlose Stunden lang Knochen studieren - und zwar echte Knochen, keine Abgüsse aus Kunststoff oder Gips. In meinem knochenkundlichen Kurs fürchteten die Studenten jedes Semester aufs Neue den »Black-Box-Test«: Ich legte mehrere Knochen in eine Schachtel, in deren Seitenwände ich runde Löcher geschnitten hatte; ein Student, der den Test bestehen wollte, musste durch die Löcher greifen und nur durch Abtasten feststellen, um was für Knochen (oder wenn ich besonders gnadenlos war, um was für Knochenbruchstücke) es sich handelte. Selbst so geringfügige Merkmale wie Gewicht oder Oberflächenbeschaffenheit können entscheidende Aufschlüsse liefern. Die Schädel von Farbigen sind beispielsweise dichter, schwerer und glatter als die entsprechenden Knochen von Weißen. Das ist ein entscheidender Grund, warum es so wenige farbige Weltklasseschwimmer gibt: Sie müssen mehr Kraft aufwenden, um nicht unterzugehen. Findet man in einem Kriminalfall nur einen Teil eines Schädels, liefern die Unterschiede in Dichte und Gewicht der Polizei unter Umständen wichtige Hinweise, ob die Knochen von einem Farbigen oder einem Weißen stammen.
Unsere gestiftete Leiche 1-81 war an einer Krankheit gestorben, aber meine Skelettsammlung sollte auch Opfer von Gewalteinwirkung enthalten. Wenn ich dann in meinen Vorlesungen über Knochenbrüche zum Todeszeitpunkt und davor sprach, konnte ich den Studenten zeigen, wie frühere Schäden verheilt waren, ganz anders als Brüche, die mit dem Tod im Zusammenhang standen. Wenn ich Ein- und Austrittsöffnungen von Geschossen beschrieb, konnten die Studenten sehen und fühlen, wie die Eintrittsöffnung sich erweitert, wenn die Kugel in den Schädel eindringt, wie die Bleispritzer im Schädelinneren aussehen, um wie viel größer die Austrittsöffnung ist und wie auch sie in Schussrichtung immer breiter wird.
Anfangs konzentrierte sich unsere Arbeit vor allem darauf, den grundlegenden zeitlichen Ablauf der Verwesung zu beobachten und aufzuzeichnen. Wie ich von Colonel Shy auf schmerzliche Weise gelernt hatte, besaßen wir nur sehr begrenzte Kenntnisse über die Vorgänge nach dem Tod. Mit unseren Untersuchungen wollten wir einfache Fragen beantworten, aber bis wir die Antworten beisammen hatten, würden Jahre vergehen. Alle Faktoren waren von Bedeutung: Lag die Leiche in der Sonne oder im Schatten? War sie bekleidet oder nackt? Befand sie sich im Freien, in einem Gebäude oder in einem Auto? Im Passagierraum oder im Kofferraum? An Land oder im Wasser? In einem der ersten Experimente bearbeiteten wir eine nur scheinbar einfache Frage: Über welche Entfernung kann eine menschliche Nase den Geruch des Todes wahrnehmen?
Den Anlass, über diese Frage nachzudenken, lieferte mir wie üblich ein echter Fall. Er ereignete sich vor meiner eigenen Haustür - jedenfalls beinahe. Die Haustür, vor der er sich tatsächlich abspielte, lag nur wenige Kilometer nördlich von Büros und Labors des anthropologischen Instituts, abseits einer belebten Durchgangsstraße namens Broadway. Genauer gesagt, handelte es sich nicht um eine Haustür, sondern um ein unbebautes Grundstück zwischen einem Haus und dem Broadway, das voller Unkraut, Gebüsch, Müll und Erdhaufen war. Im Sommer 1976 waren es die Bewohner der umliegenden Häuser endgültig leid, sich das Durcheinander anzusehen, und beschwerten sich beim Eigentümer des Grundstücks. Dieser reagiert auf die Beschwerde und beauftragte ein Aufräumunternehmen, das mit Traktor und Lastwagen daranging, Unrat und Büsche zu beseitigen.
Nach einigen Stunden, als sie schon mehrere Ladungen Müll abgefahren hatten und sich der Mitte des Grundstücks näherten, entdeckte einer der Arbeiter zwischen dem Unkraut einen Gegenstand, der wie ein menschlicher Schädel aussah. Er rief seine Kollegen zu einer Beratung zusammen, und die bestätigten seine Skelettanalyse. Es braucht wohl nicht betont zu werden, dass
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