Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
die Aufräumarbeiten damit für diesen Tag beendet waren. Die Arbeiter riefen die Polizei, und die Polizei rief mich.
Ich fuhr zum Broadway. Begleitet wurde ich von Pat Willey, dem Doktoranden, der das osteologische Laboratorium leitete - mein Knochenlabor. Wir gruben ein wenig und fanden noch ein paar weitere Knochen, allerdings nicht viele. Wie uns sehr bald klar wurde, waren die meisten wahrscheinlich bereits weggebaggert und zur Müllkippe transportiert worden.
Am Zustand der Knochen - völlig trocken und von der Sonne gebleicht - war sofort zu erkennen, dass sie schon seit geraumer Zeit dort lagen, möglicherweise seit mehreren Jahren. Aber auch die eindeutige Identifizierung ließ nicht lange auf sich warten: Die obere Platte des künstlichen Gebisses trug die auffällige Aufschrift Orval King - der Name eines Mannes aus der Gegend, den man vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Der 74-Jährige, der einige Zeit in der örtlichen Psychiatrie gelebt hatte, war auf dem Brachgelände zwischen einem Haus und der belebten Straße entweder gestürzt oder hatte sich hingelegt, um in aller Stille zu sterben.
Das faszinierende Rätsel lag in diesem Fall nicht in der Frage, wer er war, wie lange sein Tod zurücklag oder wie er gestorben war. Verblüfft war ich vielmehr darüber, dass man ihn nicht schon kurz nach seinem Tod gefunden hatte. Oder genauer gesagt: Warum hatte man ihn kurz nach seinem Tod nicht gerochen ? Wenn die Leiche eines erwachsenen Mannes verwest, entsteht ein geradezu betäubender Gestank - das kann man sich gut vorstellen, wenn man an einem warmen Sommertag schon einmal mit offenem Autofenster an einem toten Hund vorübergefahren ist.
Wir wussten, dass das benachbarte Haus zu der Zeit, als der Mann starb, bewohnt war. Außerdem wussten wir, dass der Bürgersteig vor dem Grundstück von zahlreichen Fußgängern aus der Umgebung benutzt wurde, und der Broadway war eine der belebtesten Straßen von Knoxville. Und doch hatte niemand etwas gerochen, oder zumindest war der Geruch nicht so schlimm gewesen, dass jemand Verdacht geschöpft, die Sache genauer untersucht oder sich bei den städtischen Behörden beschwert hätte.
Wenn also der Gestank des Todes nicht bis zu den Häusern oder zum Bürgersteig gedrungen war, wie weit reichte er dann überhaupt? Oder anders gefragt: Wenn eine menschliche Nase eine Leiche auf diese Entfernung nicht wahrnahm, auf welchen Abstand konnte sie dann einen verwesenden Körper bemerken? Die Antwort war nach meiner eigenen Einschätzung nicht nur für mich interessant, sondern auch für Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste auf der ganzen Welt.
Orval King hatte der Forschung eine interessante Fragestellung beschert. Mit unserer neuen, fast einen Hektar großen Forschungseinrichtung verfügte ich über den idealen Ort, um mit wissenschaftlichen, experimentellen Methoden eine Antwort zu finden. Dazu brauchte ich nur eine Leiche und ein paar lebende Versuchskaninchen.
Die Leiche hatte ich wenig später: ein herrenloser Leichnam von einem medizinischen Sachverständigen aus der Gegend. Und die Versuchskaninchen? Eine klare Sache: Studienanfänger tun alles, wenn sie sich Anerkennung erwerben können. Um Freiwillige für das Experiment zu rekrutieren, gab ich an einem Donnerstag im Herbstsemester während meiner anthropologischen Anfängervorlesung bekannt, alle Studenten, die sich zehn zusätzliche Leistungspunkte erwerben wollten, sollten am Sonntagmorgen zu mir in die anthropologische Forschungseinrichtung kommen. Ich stieß auf eine unglaubliche Resonanz. An jenem Wochenende krochen fast 100 Studenten früh aus dem Bett - alle ganz sicher motiviert durch unbändigen wissenschaftlichen Eifer.
Das Experiment selbst war ganz einfach: Ich hatte eine aufgeblähte, stark riechende Leiche ein Stück oberhalb auf den Kiesweg gelegt, der zu der Forschungseinrichtung führte. Der Leichnam war hinter Bäumen und Büschen versteckt. Am Tag zuvor hatte ich auf dem Weg zur Leiche alle zehn Meter eine Markierung angebracht - Abstände von 10, 20, 30, 40 und 50 Metern. Dann führte ich meine studentischen Versuchskaninchen einen nach dem anderen den Pfad der Tugend entlang. Dabei gab ich nur eine einzige Anweisung: »Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie etwas riechen.« Auf einem Klemmbrett vermerkte ich dann jeweils, in welchem Abstand die Studenten etwa bemerkten. Wenn ich sie in Richtung der Leiche führte, sogen sie heftig und konzentriert die Luft ein. Die meisten sagten
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