Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
erst dann etwas, wenn wir uns dem Toten schon bis auf 10 oder 20 Meter genähert hatten; plötzlich rümpften sie dann die Nase und sagten: »Puh, hier stinkt es aber gewaltig.«
Es war schnelle, schmutzige Forschung, wie man in Akademikerkreisen sagt - keine Arbeit, die man schriftlich festhalten und im Journal of Forensic Sciences veröffentlichen würde, aber immerhin so gut, dass mir eines klar wurde: Ein Mensch kann auf einem Brachgrundstück zwischen einem Haus und dem Broadway sterben, ohne dass die vielen tausend Menschen, die nur 50 Meter entfernt vorübergehen, jemals etwas riechen.
In den ersten Jahren erzielten wir mit unserer Forschungsarbeit spannende Fortschritte. Fast jede Woche trafen jetzt neue Leichen von medizinischen Sachverständigen und Spendern ein. Nicht nur die Betonplattform auf unserem eingezäunten Gelände hatte die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität erreicht, sondern auch die drei Regale - Etagenbetten für die Toten -, die wir seitlich am Zaun zusätzlich aufgebaut hatten. 1
Ich beaufsichtigte unser wachsendes Forschungsprogramm mit Eifer und Stolz. Aber die alte Lehre stimmt: Hochmut kommt vor den Fall. Als ich an einem Frühjahrstag im Jahr 1985 zum Reich meiner Forschung kam, war die Hälfte des knapp einen Hektar großen Geländes mit den Fähnchen von Landvermessern markiert, und auf einer Seite lauerte unheilvoll ein Bulldozer. Ich schnappte mir einen der Landvermesser und fragte ihn, was hier los sei. Er erklärte mir, man wolle den Parkplatz des Krankenhauses erweitern. Wie sich herausstellte, hatte die Landwirtschaftsschule mir mehr Fläche zur Verfügung gestellt, als sie selbst besaß; statt der früheren Müllkippe von fast einem Hektar gehörte mir nur eine frühere Müllkippe von einem halben Hektar, und kein Appell von meiner Seite konnte den Bulldozern, Walzen und Asphaltiermaschinen Einhalt gebieten.
Aber dass ich die Hälfte meines Geländes verloren hatte, sollte sich noch als die geringste Sorge erweisen. Ein paar Tage später rief Annette, die Institutssekretärin, mich mitten aus einer Vorlesung - eine drastische, nahezu beispiellose Maßnahme. Ob ich schon von den Protesten draußen an der Body Farm gehört hätte? Natürlich nicht. Annette und ich stiegen sofort ins Auto, fuhren hinüber auf den Parkplatz des Krankenhauses und hielten ein Stück entfernt in einer unauffälligen Ecke.
Vor meiner Forschungseinrichtung hielt eine lokale Patientenorganisation Wache. Sie nannte sich »Solutions to Issues of Concern to Knoxvillians« (»Lösungen für Besorgnis erregende Fragen der Bürger von Knoxville«) oder kurz S.I.C.K. An den Zaun hatten sie auf einer Seite ein riesiges Transparent aufgehängt; darauf stand »This makes us S. I. C. K.!« (»Davon wird uns schlecht!«) Obwohl meine Einrichtung der Gegenstand des Protestes war, musste ich beim Anblick des Transparents lachen. Es war schlau, es war lustig, und es sicherte ihnen ein großes Medieninteresse.
Aber womit hatte ich den Zorn der S.I.C.K. auf mich gezogen? Offensichtlich hatte sich einer der Landvermesser bei der Vorbereitung der Parkplatzerweiterung irgendwann zum Mittagessen im Schatten niedergelassen und dabei die verwesten Leichen auf unserem kleinen eingezäunten Areal gesehen. Als er nach Hause kam, hatte er sich bei seiner Mutter darüber beklagt, und die gehörte zufällig zur Führung der S.I.C.K. Wie es sich für eine besorgte Mutter gehört, organisierte sie den Protest.
Als ich der Gruppe erklärte, wozu die Einrichtung diente - Erforschung der Verwesung, um der Polizei die Aufklärung von Morden zu erleichtern -, räumte sie ein, solche Arbeiten seien von wissenschaftlichem Wert. Aber warum sie hier stattfinden müssten, praktisch unter den Augen der Öffentlichkeit? Ob man sie nicht beispielsweise 30 Kilometer nach Westen verlegen könne, in das riesige, bewaldete und schwer bewachte staatliche Versuchsgelände von Oak Ridge?
Du lieber Himmel, ich war erst ein knappes Jahr zuvor mit der ganzen Einrichtung aus 30 Kilometern Entfernung hierher gezogen. Für die Einrichtung unseres Forschungsprogramms war es von entscheidender Bedeutung gewesen, dass wir eine Stelle in der Nähe des anthropologischen Instituts fanden. Ich rief den Universitätsrektor Jack Reese an und erklärte ihm unser Dilemma. Ich wollte der Universität keinen Ärger bereiten, aber ich hätte sicher etwas dagegen gehabt, die Forschungseinrichtung zu verlieren oder schon wieder zu verlegen. Jack war mit seiner
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