Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
erwiderte sie überrascht und ein wenig verärgert.
Aber ich blieb hartnäckig: »Woher wussten Sie es dann? Diese Frage beantwortet jeder falsch. Alle werfen einen Blick auf den Schädel und sind dann sicher, dass es ein Weißer ist.«
»Ich habe mir nicht den Schädel angesehen, sondern das Knie«, antwortete sie.
Völlig verblüfft starrte ich sie an: »Wie bitte? Wovon reden Sie eigentlich?«
Und nun erklärte die Studentin ihrem Professor - einem Vertreter des American Board of Forensic Anthropologists -, dass im Knie von Farbigen zwischen den Kondylen - den breiten, gewölbten Enden der Knochen, die das Gelenkscharnier bilden - ein größerer Abstand liegt als bei Weißen. »Das ist der Grund, warum Chirurgen schwarze Sportler viel lieber am Knie operieren als weiße. Da haben sie mehr Platz zum Arbeiten. In der Sportmedizin weiß das jeder.«
Meine Berufslaufbahn dauerte zu jener Zeit schon über 30 Jahre, aber Emilys Worte wirkten auf mich wie eine Offenbarung. »In der Anthropologie weiß das niemand«, erwiderte ich. Nachdem ich ein paar Mal heftig geschluckt und meinen ganzen Professorengrips zusammengenommen hatte, fügte ich hinzu: »Das wäre ein großartiges Thema für eine Doktorarbeit.«
Emily befolgte meinen Rat. Sie untersuchte, bestätigte und veröffentlichte nicht nur das, was ihr bereits an den Knien lebender Sportler aufgefallen war, sondern sie ging noch einen Schritt weiter: Nach ihren Feststellungen konnte man auch einen anderen geringfügigen Unterschied zwischen den Knien von Weißen und Farbigen zur Ermittlung der Rasse heranziehen. Der Winkel einer inneren Linie im Oberschenkel knapp über dem Knie - sie wird nach dem deutschen Arzt, dem sie in seitlichen Röntgenaufnahmen zum ersten Mal auffiel, als Blumensaat-Linie bezeichnet - ist bei Farbigen und Weißen unterschiedlich geformt. Nachdem Emily Hunderte von Oberschenkelknochen vermessen und in Röntgenaufnahmen dokumentiert hatte, entwickelte sie eine Formel, die mit 90-prozentiger Genauigkeit die Unterscheidung zwischen den Oberschenkelknochen von Negroiden und Kaukasoiden ermöglichte. Auf einem Gebiet, das zuvor zur Rassenfeststellung ausschließlich auf den Schädel angewiesen war, bedeutete das einen gewaltigen Fortschritt.
Wäre Emily nicht auf dem Weg über medizinische Zeichnungen zu uns gekommen, hätten wir es vielleicht nie erfahren, und uns hätte eine Methode gefehlt, die sich seither in mehreren Mordfällen bei der Identifizierung der unbekannten Opfer als unentbehrlich erwiesen hat.
Eine ganz ähnliche wissenschaftliche Kreuzbefruchtung schwebte auch Arpad Vass vor, als er mir seinen Plan darlegte, die Zeit seit dem Tod mit Hilfe biochemischer Daten zu ermitteln. In diesem Fall ging es nicht um den Knochenbau, sondern um Bakterien.
Als Arpad mir erläuterte, wie er Bakterien als forensische Stoppuhr nutzen wollte, überlegte ich ernsthaft, ob seine Forschung nicht in einem anderen Institut besser aufgehoben wäre als in der Anthropologie. Ich wusste, dass sie zu stark anwendungsbezogen und forensisch orientiert war, sodass sie in den Instituten für Biologie oder Chemie nicht auf Zustimmung stoßen würde. Andererseits war mir klar, dass ich die Definition der Anthropologie ziemlich strapazieren musste, um ihn bei uns unterzubringen. Aber ich musste mir immer wieder ausmalen, wie stark das Fachgebiet von einer solchen revolutionären Methode profitieren würde. »Wissen Sie was«, sagte ich schließlich, »ich werde durchsetzen, dass Sie aufgenommen werden, wenn Sie sich ausdrücklich mit der Verwesung menschlicher Leichen beschäftigen - und wenn Sie sicher sind, dass es klappen wird.« Er versicherte mir, das werde er tun, und es werde klappen.
Wenig später hatte er mir bewiesen, dass er es mit der ersten Voraussetzung ernst meinte. Schon einige Tage später arbeitete Arpad draußen in der Forschungseinrichtung, entnahm Proben von verwesendem Fleisch, Madenbrühe und schmieriger Erde. Er sammelte eine Ladung Proben ein, verschwand dann tagelang im Chemielabor, und wenn er wieder herauskam, sammelte er neue Schmiere ein.
Schwieriger war es, den zweiten Teil unseres Abkommens einzulösen: Würde es funktionieren? Nach Arpads Theorie würden sich im Laufe der Verwesung unterschiedliche Bakterienarten von dem menschlichen Gewebe ernähren, ganz ähnlich wie die Insekten, die eine Leiche immer in der gleichen Reihenfolge besiedelten. »Schwein ist Schwein«, sagt ein altes Sprichwort. Arpad hoffte, dass auch
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