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Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Titel: Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bass Jon Jefferson
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hervorragende Voraussetzungen für einen Kriminalisten. Aber er wollte nicht nur in einem kriminaltechnischen Labor arbeiten, sondern in der forensischen Technik Neuland betreten. Seine Idee faszinierte mich. Wenn es klappte, würde sich ein revolutionärer neuer Weg - ein quantitativer, objektiver Weg - eröffnen, um eine der ersten und entscheidenden Fragen jedes Mordermittlers zu beantworten: Wie lange ist der Mensch schon tot?
    Im Zusammenhang mit Arpads Vorschlag nagten zweierlei Zweifel an mir. Erstens: Wie um alles in der Welt konnten wir chemische Arbeiten als anthropologische Forschung deklarieren? Und zweitens stellte sich die viel entscheidendere Frage: Wie sollte die Methode funktionieren?
    Ich habe immer fest daran geglaubt, dass Ideen sich gegenseitig befruchten können. Jede forensische Untersuchung ist eine Gemeinschaftsarbeit, und je mehr Erfahrungen - und zwar unterschiedliche Erfahrungen - dabei einfließen, desto besser ist es. Diese Ansicht teilen nicht alle Kollegen in meinem Fachgebiet; während ich in den Eingeweiden eines Footballstadions improvisieren musste, saßen manche Anthropologen hoch oben im sprichwörtlichen Elfenbeinturm und rümpften die Nase über unsere unorthodoxen Methoden in Tennessee. Aber ich habe im Laufe der Jahre festgestellt, dass meine Kenntnisse als Anthropologe stark bereichert wurden, wenn ich von Menschen lernen konnte, die auf ungewöhnlichen Wegen zu unserem Fachgebiet gekommen sind.
    Ein gutes Beispiel ist Emily Craig. Im Gegensatz zur Mehrzahl unserer Doktoranden kam sie nicht mit einem frischen Anthropologie-Examen in der Tasche zu uns. Als sie sich für unseren Promotionsstudiengang bewarb, war sie schon über 40. Emily hatte ein Examen als medizinische Illustratorin abgelegt und jahrelang in einer Klinik in Georgia die Abbildungen für wissenschaftliche Veröffentlichungen und Operationshandbücher angefertigt. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte sie viel mit Ärzten zu tun gehabt und eine Menge Knochen gesehen; deshalb war ich überzeugt, dass sie ihre anthropologischen Untersuchungen aus einem interessanten Blickwinkel betreiben könnte. Wie sich herausstellte, hatte ich Unrecht - das heißt, ich hatte sie mit meiner Vermutung völlig unterschätzt.
    In ihrem ersten Semester belegte Emily meinen Kurs in Personenidentifizierung; darin lernten die Studenten, Skelettreste zu untersuchen und die großen Vier festzustellen: Geschlecht, Alter, Rasse und Körpergröße. Jede zweite Woche brachte ich ein neues Skelett mit - ein bekanntes Skelett, häufig aus einem forensischen Fall, bei dem die Polizei sich an mich gewandt hatte.
    Ungefähr in der sechsten Woche des Kurses, wenn die Studenten sich bereits etwas auf ihre neuen Kenntnisse einbildeten, gab ich ihnen immer einen Schuss vor den Bug. Jahre zuvor war ein älterer farbiger Mann in Winchester in Tennessee aus einem Pflegeheim weggelaufen. Als man schließlich ein Skelett fand, sollte ich im Auftrag der Polizei feststellen, ob es sich um den Vermissten handelte. Anfangs erklärte ich, meiner Ansicht nach sei er es nicht: Es war kein negroider Schädel; Zähne und Kiefer standen nicht vor wie bei einem Farbigen. Der gleichen Ansicht war auch Pat Willey, der Doktorand, der damals mein knochenkundliches Labor leitete. Eine Woche später erhielten wir Röntgenaufnahmen von dem vermissten Farbigen - und die passten genau zu dem Skelett, das wir sehr selbstbewusst als Weißen eingestuft hatten.
    In dem Identifizierungskurs führte ich die Studenten jedes Jahr über den gleichen steinigen Weg, den auch ich mit dem Skelett gegangen war, und jedes Mal schrieben die Studenten - denen die fehlende Prognathie im Mundbereich auffiel - kaukasoid auf ihr Antwortblatt. Dabei waren sie ihrer Sache genauso sicher, wie ich es Jahre zuvor gewesen war.
    Als ich Emilys Arbeit las, war ich überrascht: Sie hatte negroid geschrieben und war damit als Einzige in dem Kurs, ja sogar als einzige Studentin aller Zeiten, auf die richtige Antwort gekommen. Ich rief sie in mein Büro und fragte sie aus. »Wer hat Ihnen gesagt, dass es ein negroides Skelett ist?«, wollte ich wissen. Ich führe die Studenten schon seit Jahren mit diesem Skelett an der Nase herum und lasse mir hinterher versichern, dass nichts ausgeplaudert wird, damit die Kursteilnehmer im nächsten Jahr ebenfalls lernen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Jetzt sah es so aus, als hätte irgendjemand das Schweigegelübde gebrochen.
    »Das hat mir niemand gesagt«,

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