Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Kriechkeller eines Hauses mehrere möglicherweise menschliche Knochen gefunden. Moore fragte, ob ich am nächsten Tag mit einer forensischen Einsatzgruppe hinüberkommen könne; wir sollten die Knochen ausgraben und feststellen, ob sie tatsächlich menschlichen Ursprungs waren.
Ich erwiderte, ich könne leider nicht kommen: Früh am nächsten Morgen sollte ich nach Washington fliegen und an der Smithsonian Institution eine Vorlesung über forensische Anthropologie halten; Zielgruppe waren medizinische Sachverständige aus dem ganzen Land und Beamte des FBI, das seinen Sitz unmittelbar neben der Wissenschaftsinstitution hatte. Aber ich konnte ihnen ein Team mit erfahrenen Mitarbeitern schicken.
Unsere Einsatzteams arbeiteten mittlerweile auch ohne mich wie ein gut geöltes Räderwerk. Ich rief die Studenten zusammen, die gerade Bereitschaftsdienst hatten - Bill Grant, Samantha Hurst und Bruce Wayne -, und gab die Anweisungen des Agenten Moore weiter. Sie sollten sich am nächsten Tag um halb eins in seinem Büro im Gerichtsgebäude des Kreises Cumberland in Crossville einfinden und dann hinter ihm her zum Tatort fahren. Bevor ich das Büro verließ, schärfte ich ihnen noch ein letztes Mal ein: »Vergesst auf keinen Fall die Bodenproben für Arpad!« Eine umwälzende neue Methode zur Bestimmung des Todeszeitpunktes sollte zum ersten Mal in einem Mordfall ausprobiert werden.
In den zehn Jahren, in denen wir mittlerweile an der anthropologischen Forschungseinrichtung die Verwesung von Leichen untersuchten, hatten wir Dutzende von Studien und Experimenten durchgeführt; in den meisten Fällen ging es dabei um die verschiedenen Faktoren, die sich auf die Verwesungsgeschwindigkeit auswirken. Wir hatten beobachtet, dass Leichen den ganzen Winter über und bis weit in den Frühling hinein zusammenhielten, während sie in der feuchten Sommerhitze innerhalb von zwei Wochen zum Skelett wurden. Wir hatten Leichen in den Schatten und in die sengende Sonne gelegt und dabei festgestellt, dass sie in der Sonne häufig mumifizieren: Die Haut wird zäh wie Leder, sodass Maden nicht mehr eindringen können. Wir hatten Leichen auf dem Trockenen mit Leichen im Wasser verglichen - die Wasserleichen blieben etwa doppelt so lange erhalten. Wir hatten Leichen an der Oberfläche mit solchen in flachen und tiefen Gräbern verglichen; die Verwesung tief vergrabener Leichen dauerte achtmal so lange wie die eines an der Luft liegenden Toten. Wir hatten dicke und magere Leichen beobachtet; die dicken skelettieren viel schneller, weil ihr Fleisch riesige Heerscharen von Maden ernährt; als wir kürzlich in einer Folgeuntersuchung jeden Tag den durch Maden verursachten Gewichtsverlust maßen, stellten wir bei der Leiche eines Fettsüchtigen in nur 24 Stunden die erstaunliche Abnahme von 18 Kilo fest - ein Wert, der mit keiner Schlankheitsdiät auch nur annähernd zu erreichen ist.
Diese Untersuchungen lieferten wichtige Aufschlüsse über Vorgänge und den zeitlichen Ablauf der Verwesung von Menschen, aber sie stützten sich ausschließlich auf die Interpretation umfassender, sichtbarer Veränderungen. Wir hatten uns zwar alle Mühe gegeben, diese Veränderungen so gut wie möglich im Detail zu differenzieren, aber es blieb immer noch Spielraum für subjektive Deutungen und damit für eine gewisse Ungenauigkeit. Die Ermittlung der Zeit seit dem Tod war eine frustrierende, nicht gerade exakte Wissenschaft.
Aber einige Jahre nachdem wir mit unseren Forschungsarbeiten begonnen hatten, trat ein junger Wissenschaftler mit einer kühnen, ehrgeizigen Idee an mich heran: Er wollte daraus tatsächlich eine exakte Wissenschaft machen. Sein Name war Arpad Vass, und er arbeitete in einem kommerziellen Labor, das im Auftrag der Polizeibehörden gerichtsmedizinisches Material analysierte. Arpad wollte an unserem Promotionsstudiengang teilnehmen und eine quantitative, naturwissenschaftliche Methode entwickeln, mit der man anhand biochemischer Daten die Zeit seit dem Tod ermitteln konnte. Letztlich wollte er also eine Art forensische Uhr erfinden, die man sofort nach der Entdeckung der Leiche in Gang setzte und dann rückwärts laufen ließ. Wenn sie stehen blieb - wenn sie also den ganzen Rückweg bis zum Nullpunkt abgespult hatte -, sollte sie die genaue Zeit anzeigen, zu der das Mordopfer ums Leben gekommen war.
Arpad hatte seinen Bachelor in Biologie mit Nebenfach Chemie gemacht und dann das Master’s Degree in forensischer Wissenschaft abgelegt -
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